Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Engel in Amerika"
Autor: Tony Kushner
Regie: Simone Stone
Dramaturgie: Almut Wagner
Bühne: Ralph Myers
Musik und Sounddesign: Stefan Gregory
Licht: Cornelius Hunziker
Kostüme: Mel Page
Mit Pia Händler, Barbara Horvath, Florian Jahr, Roland Koch, Nicola Mastroberardino, Myriam Schröder, Michael Wächter, Simon Zagermann
Mut zu Optimismus und Menschlichkeit
Mit einer Marathon-Aufführung startete der neue Theaterintendant Andreas Beck seine Schauspiel-Saison. Nach sechs Stunden Theater inklusive Pausen: stehende Ovationen, Beifallsrufe und Fussgetrampel; und wofür?
Ein Aids-Drama. Menschen leiden Qualen, einer stirbt, Beziehungen enden im Zerwürfnis, religiöse Heilswünsche und aufrechte Gesellschaftsbilder in totaler Verwüstung. Dabei kann sich keiner im Publikum ganz sicher sein, alles ganz genau verstanden zu haben, zumal wenn ein Engel krachend durch die Bühnendecke bricht und sexuelle Erregung und interpretatorische Verwirrung unter die gequälten Erdlinge bringt. Bloss ein Traum? Oder eine Heimsuchung? War es am Ende nur eine Vision, unterstützt von Medikamenten?
Autor Tony Kushner weigerte sich, "die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten" auszubuchstabieren. Und der neue hauseigene Regisseur Simon Stone tat es ihm gleich bei seiner weitgehend wortgetreuen Umsetzung des Stoffes, beliess das mit den mit Pulitzer-Preis ausgezeichnete, zum Klassiker avancierte Schauspiel von 1991 so "struppig und merkwürdig", wie es Kushner "schätzt" (Zitate Kushner aus dem Programmheft). Wir sehen Menschen im New York der achtziger Jahre, die sich mit Begierden, Traditionen, Religionen, Schwächen und Schuldgefühlen herumschlagen.
Was aber hält den Geist im Auditorium frisch? Es ist nicht allein der Fluss des Stückes, der mit überlappenden Szenen einen magischen Sog entwickelt. Ebensowenig wegen einer Regie, die mit kühnen Einfällen punkten will; Simon Stone setzt unspektakulär auf Übersichtlichkeit und präzise Figurenführung. Auch nicht, dass der Plot auf Spannung machte; eher im Andante schreitet er die Stationen ab.
Nein, Kushner, Stone, das Ensemble lassen uns in glaubwürdiger und gleichzeitig humorvoller Weise daran teilnehmen, wie im Elend, unter Leidensdruck, Lügen aufgedeckt werden und falsche Beziehungen aufbrechen, wie Selbstmitleid und falsche Identitäten abgeschüttelt werden können und der Mensch mit mehr Klarheit zu Heilung gelangen kann. Heilung nicht von Aids, aber seelisch und geistig; Kushner ist kein Esoteriker, sondern ein politischer Schriftsteller. So scheidet er auch diejenigen, die durch das Leid wachsen, von den anderen, die auf der Strecke bleiben.
Hoffnungslos verrecken lässt er den machtgierigen Anwalt Roy M. Cohn (Roland Koch), eine reale Figur, die während der McCarthy-Ära Kommunisten als Spione auf den elektrischen Stuhl schickte. Bis zum Schluss lässt er Wut und Verachtung am Spitalpersonal aus, hält er an der republikanischen Hackordnung fest, an der er selbst zerbricht: Amerika sei kein Land der Schwachen, würgt er aus der Kehle, während ihn Krämpfe zu Boden werfen.
Ihm gegenüber steht als Lichtgestalt der junge Prior Walter: Als leidenschaftlichen Empfindungsmenschen mit engelhaften Locken und ohne gesellschaftliche Gebundenheiten stellt ihn Nicola Mastroberardino vor, der mit seinem Engel ringt und seinen Ex-Liebhaber Louis (Florian Jahr) verstösst. Denn Louis hatte sich davon gemacht, als Prior erkrankte, weil er den Geruch und die wunden Stellen nicht aushielt.
Als tragische Figur zwischen den Welten strandet der junge Anwalt Joseph Pitt (Michael Wächter). Als Ziehsohn lässt er sich zu krummen Dingern für den Zyniker Cohn missbrauchen. Als Mormone darf er nicht schwul sein, und muss die zerrüttete Ehe zu seiner Frau Harper (Pia Händler) aufrecht erhalten, für die er sexuell nichts empfindet. Bis zum Schluss kann er sich nicht zwischen seinem neuen Lover Louis und ihr entscheiden. Sie, die ihre Tage mit eskapistischen Valium-Trips verbringt, oder anders: sich mit ihren Fantasien die Kreativität bewahrt, ist es, die den Schlusspunkt setzt und ihren Reagan-Anhänger verlässt.
Ja, das klingt nach Schematik, wären da nicht Kushners brillante, lebensnahe Dialoge voll von sprühendem Witz und virtuos gesetzten Pointen, mit denen er flink und präzis die Untiefen der Personen auslotet. Kaum je rutschten die Hauptfiguren ins Typisierende ab. Das neue Schauspiel-Ensemble schlug das Basler Theaterpublikum mit seiner Spielfreude in Bann. Die Namen Pia Händler, Michael Wächter und Nicola Mastroberardino muss man sich merken. Punkto genauer Figurenführung und technischer Fertigkeit schwangen sie oben aus.
Der erste Teil "Die Jahrhundertwende naht", in dem Kushner die Krise auffächert, ist einfacher verständlich als der zweite "Perestroika", in den sich mehr Träume, Visionen und Engelauftritte mischen. Denn Kushner will so etwas wie eine herannahende Hellsicht, etwas Feinstoffliches übermitteln, das jenseits von einem konventionellen Gottesbild, das hinter dem seelischen Aufbruch seiner Figuren liegt. Prior spricht am Ende Kushners Botschaft ins Auditorium: "Mehr Leben. Das Grosse Werk beginnt." Das klingt nach Pathos, es wäre hohl, hätte Kushner damit mehr gemeint als den Mut zu Menschlichkeit und Optimismus.
24. Oktober 2015