Die Kathedrale liegt in uns
7. April 2024: erster Sonntag nach Ostern, der "Weisse Sonntag". Diesen sonnigen Frühlingstag verbrachte ich in Frick, an der Erstkommunion meines Göttibuben.
Für mich als "nüchterner" Reformierter mit Wurzeln in der Zwingli-Stadt Zürich war es ein besonderes Erlebnis, an diesem katholischen Fest in ländlicher Umgebung dabei sein zu dürfen.
Drei Mädchen und acht Buben im Alter von neun bis zehn Jahren sassen in ihren schmucken, weissen Gewändern erwartungsvoll vor dem prächtigen Altar der blumengeschmückten Barockkirche. Ein Gospelchor sorgte für stimmungsvolle Klänge. Die Familien hatten sich während Wochen intensiv auf den grossen Tag vorbereitet. Mütter und Väter hatten nicht nur die Gesangshefte und Einladungen gestaltet, sondern auch handgrosse Kreuze aus Ton modelliert und liebevoll verziert.
Im Verlauf der feierlichen Zeremonie empfingen die Kinder zum ersten Mal die Kommunion: die Hostie, die an das letzte Abendmahl von Jesus mit den Jüngern erinnert und für die Verbundenheit in der christlichen Gemeinschaft steht. Nach dem Gottesdienst wurde im Grünen ein Apéro serviert. Die Fricker Dorfmusik spielte beschwingt auf und überraschte mit einem Repertoire aus Rhythm & Blues-Songs und Disco-Evergreens.
Viele Eltern haben keinen Bezug mehr zu religiösen Traditionen.
Die Erstkommunion stand im Zeichen des Bibelworts "Lasset die Kinder zu mir kommen" (Markusevangelium, Kapitel 10, Verse 13-16). Nun wissen wir, dass die Kirchen, katholische wie reformierte, heute grosse Mühe haben, sich auf dem weiten gesellschaftlichen Feld der Ideen und Angebote zu behaupten. Die Kinder kommen nicht mehr einfach in die Gotteshäuser. Viele Eltern haben keinen Bezug mehr zu religiösen Traditionen, die ihre eigenen Eltern noch pflegten.
Der Mitgliederschwund bei den Landeskirchen war in den letzten Jahrzehnten gross, und er setzt sich fort. Wichtige Gründe dafür sind bekannt. Unsere Gesellschaft ist individueller und freiheitlicher geworden, aber auch egozentrischer und weniger solidarisch. Kaum jemand will sich mehr von einer spirituellen Instanz in das eigene Leben hineinreden lassen. Das ist verständlich.
Die Kirchen haben ihre ethische Deutungsmacht weitgehend verloren. Sie sind in unseren Breitengraden keine gesellschaftsprägende Kraft mehr. Zu Recht werden kirchliche Amtsträgerinnen und Amtsträger an dem gemessen, was sie verkünden: Wasser predigen und Wein trinken geht nie, und in den Kirchen am allerwenigsten.
Kritik, Distanz, auch völlige Ablehnung sind legitime Haltungen.
Umso schwerer wiegen die vor allem in der römisch-katholischen Kirche aufgedeckten, sexuellen Missbräuche von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche. Die klerikale Hierarchie vertuschte diese schweren Delikte systematisch, schützte die Täter und liess die Opfer allein. "Lasset die Kinder zu mir kommen" bekommt da einen schalen Geschmack.
Viele Leute haben Mühe mit allem Kirchlichen. Negative persönliche Erfahrungen mögen eine Rolle spielen. Oft ist es schlicht Entfremdung. Kritik, Distanz, auch völlige Ablehnung sind legitime Haltungen.
Doch ist da die echte Freude, mit der Kinder, Familien, Dorfgemeinschaften religiöse Feiern wie die Erstkommunion in Frick begehen. Diese von Herzen kommende, einladende Freude zählt für mich mehr als alle Werturteile, Prinzipien oder Dogmen, die oft mit grossem Eifer für oder gegen die Kirchen ins Feld geführt werden.
Der französische Dichterpilot Antoine de Saint-Exupéry, der die Zerstörung der nordfranzösischen Städte mit ihren mittelalterlichen Kirchen durch die Nazi-Armeen 1940 erlebte, meinte wohl dies, als er sagte: "Ein Steinhaufen hört auf, ein Steinhaufen zu sein, sobald jemand, der ihn betrachtet, das Bild einer Kathedrale in sich trägt."
Wir machen Kirchen zu Kirchen, und alles andere auch, für das wir uns einsetzen. Die Kathedrale liegt in uns.
15. April 2024
"Danke!"
Schöner Kommentar, danke!
Christoph A. Müller, Basel