Helvetisches Dornröschen, erwache!
Wer kennt sie nicht, die Geschichte von Dornröschen? Tief schlafend im Turmzimmer eines von Rosenranken überwucherten Schlosses wartet es seit hundert Jahren auf den Augenblick der Erlösung. Wir sollten uns wieder einmal mit dem anmutigen Kind befassen. Seine Geschichte führt in die Realität.
Der Rufname der Märchenprinzessin ist nicht überliefert. Indizien lassen indes vermuten, dass sie Helvetia heisst. Auch diese schläft fest in einem zunehmend dornigen Umfeld. Missgünstige Feen, die Helvetia ihre privilegierte Stellung neiden, gibt es zuhauf. Überbesorgte Eltern und dienstbeflissen scharwenzelnde Hofschranzen wollen das vielseitig interessierte, intelligente Mädchen mit seinem freundlichen Wesen vor allerlei Risiken und Gefahren bewahren. Helvetia soll die Unbill dieser Zeit im goldenen Käfig aussitzen. Wegweisende Chancen gab es offenbar nur in der Vergangenheit.
Noch schläft Helvetia. Ihre Traumbilder führen sie weit über das kleine Turmzimmer hinaus, überwinden die Dornen, verbinden sie mit Menschen und Völkern. Träume sind frei; ihr Horizont ist grenzenlos. Doch von draussen dringt klirrender Lärm durch das Gestrüpp. Martialische Reiter kommen bedrohlich näher. Das rosenumrankte Schloss ist nicht mehr sicher.
Helvetia spürt instinktiv, dass sie nun nicht mehr länger auf den Prinzen warten kann.
Helvetia ist nicht naiv. Sie spürt instinktiv, dass sie nun nicht mehr länger auf den Prinzen warten kann. Ein Kuss, und sei er noch so royal, bietet keine Gewähr für beständiges Glück. Es braucht langfristige Absicherungen. Nur wer Risiken eingeht, kann sich Chancen erschliessen.
Die Europäische Union ist keine liebestrunkene Erlöserin, die Helvetia in ihre Arme schliesst. Die Gefühlslage in Brüssel ist komplex, könnte man sagen. Die Trennung von Britannia schmerzt noch immer. Und doch: Die Zeit ist reif, die Träume zu beenden, das weiche Bett zu verlassen, die Turmtreppe hinabzusteigen, die Schlosstür zu öffnen, die dornigen Stauden zu durchbrechen und in die Wirklichkeit hinauszutreten.
Es ist Zeit, überängstlichen, zaudernden Magistraten, Parlamentarierinnen, Verbands- und Parteipräsidenten klar zu sagen, dass Helvetia jetzt institutionell gefestigte Beziehungen mit der EU braucht – und die EU mit Helvetia. Damit alle ihre Stärken einbringen und von den Stärken der anderen profitieren können. Geben und Nehmen, Erfahrungen teilen, Chancen nutzen und Gefahren gemeinsam abwenden.
Sie hat lange genug in ihrem Turmzimmer Risiken vermieden.
Helvetia, die lange genug in ihrem Turmzimmer Risiken vermieden hat, will nun die Chancen packen. Die dynamische Regio Basiliensis mit modernsten Life Science-Firmen und der ältesten Universität der Schweiz weiss um die fundamentale Bedeutung einer freien, grenzübergreifenden Lehre und Forschung.
Helvetias uneingeschränkte Teilnahme am europäischen Forschungs- und Innovationsprogramm "Horizon Europe", weltweit das bedeutendste seiner Art, ist eine Riesenchance. Dasselbe gilt für Erasmus+, ein EU-Bildungsprogramm, das den Austausch zwischen Universitäten, Studierenden, Dozierenden und Jugendlichen aus über 30 Staaten fördert. Helvetia ist heute leider aussen vor.
Wir müssen selbstbewusst verhandeln. Wo, wie etwa bei der Weiterentwicklung von Niederlassungsrechten, eine dynamische Rechtsübernahme zu tief in unser ausbalanciertes Gefüge eingreifen könnte, brauchen wir "Opting-out"-Klauseln mit fairen Ausgleichsmechanismen. Das ist realisierbar.
Die Chancen von geregelten Beziehungen der Schweiz mit der EU übersteigen die damit verbundenen Risiken bei Weitem. Gefahren kommen von anderer Seite. Nach dem schamlosen Überfall Putins auf die Ukraine wird Europa nie mehr sein wie zuvor, wie immer der Krieg auch ausgeht. Helvetia und die EU müssen sich dieser Zäsur gleichermassen stellen.
Helvetisches Dornröschen, erwache!
27. November 2023
"Ein Auslaufmodell"
Scheinbar genial aufgedröselt: das Narrativ vom helvetischen Dornröschen, das die EU zu verschlafen droht. Der Haken dabei ist: Erwachen müssen alle Schlaraffenländer, und nicht nur die Schweiz.
Wer nicht mehr schläft, sieht heute draussen in der Welt viele Systeme, die über Jahrhunderte Bestand hatten und jetzt kaputt gehen. Dieser Prozess ist verbunden mit Veränderungen, die Angst machen können und bewirken, dass viele Menschen sich innerlich zurückziehen und auf bessere Zeiten warten wollen.
Es sind aber auch Veränderungen, die unabdingbar kommen mussten. Denn eines ist klar: Weiter gehen wie bisher kann es unmöglich. Weil dieses auf ständiges Wachstum angewiesene, auf Aggression und Ausbeutung aufgebaute System final ausbrennt. Das Schlaraffenland, das auf einer autoritär-hierarchisch-totalitär und industriell-militärisch-technokratisch "Zuvielisation" basiert, ist ein Auslaufmodell.
Ueli Keller, Allschwil
"Eine trügerische Ruhe"
Witzig und originell geschriebener Text. Es stellt sich wirklich die Frage, wie lange die holde Helvetia noch schlafen will und wie viele Chancen sie damit verpasst. Die Schweiz ist mitten in Europa, die EU ist der wichtigste Partner der Schweiz, in so ziemlich allen Belangen. Im Bildungsprogramm Erasmus nicht mitmachen zu können, ist für unsere Bildung katastrophal, für die Jugend ein Desaster. Die Nationalisten, die Isolationisten und Ewiggestrigen haben keine Alternative zu bieten. Sie sagen zu fast allem, was von der EU kommt, reflexartig Nein, ohne sich gross Gedanken über die Konsequenzen zu machen.
Die EU ist kein Tor zum Paradies. Das helvetische Abseitsstehen und Abschotten ist trotz aller Mängel und Defizite der EU kein erfolgversprechender Weg. Nicht nur die dynamische Regio Basiliensis, auch die behäbige Verwaltungsregio Bernensis weiss um die Wichtigkeit geklärter, offener Beziehungen zur EU.
Der Dornröschenschlaf von Helvetia ist eine trügerische Ruhe – aufwachen und mitgestalten ist das Gebot der Stunde. Mitgestalten darf nicht Rosinenpickerei heissen wie sie von Politiker*innen auf der rechten Seite so gerne betrieben wird.
Helvetia gehört zu Europa, Märchenschloss hin – Turmzimmer her. Nur wenn wir offen und mutig handeln, können wir auch mitgestalten. Abseitsstehen ist keine Option und erhöht die Gefahr, dass es früher oder später ein böses Erwachen im Turmzimmer gibt.
Hoffentlich ist Herr Schinzel nicht ein einsamer Rufer in der Wüste bzw. in seiner Partei. Das peinliche Anbiedern an die SVP, wie bei den Nationalratswahlen, wird es hoffentlich in der Europapolitik bei der FDP nicht geben.
Thomas Zysset, Bolligen
"Eine fette Beute"
Ich sehe eher in Marc Schinzel das Dornröschen, das von einer weltumspannenden EU träumt. Doch diese EU ist alles andere als ein schönes Gebilde, sondern ein Staat mit einer korrupten Führung, die den Untertanen das Geld wegnimmt und ihr Gebilde langsam aber sicher dem Ruin entgegensteuert. Da wäre die Schweiz mit ihrer guten Bilanz (wie sieht es im der EU aus?) eine fette Beute, die man sich unter den Nagel reissen kann. Die Volksrechte werden abgeschafft und anderes mehr – also acht Millionen Sklaven und einige Sklavenhalter, die den Sklaven nette Märchen erzählen. Nein Danke – ohne mich.
Alexandra Nogawa, Basel
"Bist Du dabei?"
Lieber Marc, sehr gut geschrieben – jetzt müssen wir innerhalb der FDP BL/CH das auch klar kommunizieren – bist Du dabei? Ich hatte bis jetzt das Gefühl, der alleinige Rufer in der Wüste zu sein …
Paul Hofer, Oberwil
"Feinspüriger, origineller Text"
Ein sehr feinspüriger, origineller Text, der uns alle überzeugt. Ausser einer gewissen, sehr rechts aussen positionierten Angstpartei – ich finde sie sollte sofort im Schloss in Ketten gelegt werden, die alles Verhindernde! Danke, Marc Schinzel, für Ihren tollen Beitrag
Bernhard Gschwind, Therwil
"Will Helvetia zu viel?"
Nettes Märchen. Die Schlussfolgerungen sind auch nicht falsch, zumal aus Sicht von "Basel". Wir wissen eigentlich schon, was Helvetia braucht, aber wie gross ist dabei die Gefahr der Verstrickung in dem Bürokratiemonster der von Bürokraten regierten EU, wenn man diesem zu nahe kommt? Klar – es ist unmöglich, den Batzen unds Weggli zu wollen – aber ist es denn so? Will Helvetia zu viel? Ohne Gegenleistung? War (ist) "Horizon Europe" nicht einfach eine billige Erpressung, für die es in GB oder den USA durchaus Alternativen gäbe?
Sind die EU-Forderungen bei der Personenfreizügigkeit "daneben"? Ist es die Gewerkschaftsforderung bezüglich Lohnschutz in der teuren Schweiz? Beide haben sie doch recht – aber ist es ein so unlösbares "Problem"? Oder ist das Problem letztlich nicht ein unnötiges, in unserer digitalen Zeit einfach lösbares? Ist nicht die Verstrickung in einer in der Schweiz erwachsenen Bürokratie und mangelnde Flexibilität schuld an der scheinbaren Unlösbarkeit?
Ein Kuss vom Prinzen löst tatsächlich kein Problem, weil der genauso flüchtig und unfassbar bleibt, wie die auf Theorien basierenden Lösungsvorschläge von Bürokraten und Diplomaten.
Peter Waldner, Basel
"Für unsere Region von grösster Bedeutung"
Marc Schinzel hat zu 100 Prozent recht: "Die Chancen von geregelten Beziehungen der Schweiz mit der EU übersteigen die damit verbundenen Risiken bei Weitem.". Die Schaffung von zukunftsfähigen Vereinbarungen mit der EU sind für unsere Region von grösster Bedeutung. Eine Nordwestschweiz ohne rechtssichere Verträge mit den Mitgliedsstaaten der EU (und rund um unser Land ist nur EU!) schadet sich selbst am meisten.
Eric Nussbaumer, Liestal