Schatten über Deutschland
"Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht." So klagte der Dichter Heinrich Heine 1844 im Pariser Exil, nachdem er wegen reaktionärer deutscher Fürsten seine Heimat verlassen hatte.
Leiden an Deutschland heute? Privat nicht unbedingt. Bei einem Familienanlass in einem gepflegten badischen Gasthof zeigte sich die grenznahe Region von ihrer gewohnt angenehmen Seite.
Und doch: Deutschland steckt in einer institutionellen Krise. Der Graben zwischen den Politisierenden und dem Volk ist erschreckend tief geworden.
Die Abgeordneten debattierten heftig, doch waren sie sich stets der besonderen Verantwortung bewusst.
Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Erlass des Grundgesetzes 1949 waren herausragende Leistungen. Vier Jahre nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur bekannte sich Westdeutschland zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es begann eine lange Erfolgsgeschichte. Die Bundesrepublik wurde zum zuverlässigen Partner in Europa und in der Nato.
Für diese Wandlung standen auf allen politischen Seiten Personen, die das nationalsozialistische Inferno erlebt und das "Nie wieder!" verinnerlicht hatten. Bundeskanzler Adenauer setzte die Westbindung Deutschlands durch. Die Bürgermeister Ernst Reuter und Willy Brandt, Letzterer später Bundeskanzler, steuerten das vom Ostblock eingeschlossene Westberlin während der Blockade 1948 und beim Mauerbau 1961 durch existentielle Bedrohungen. Die Abgeordneten im Bundestag debattierten heftig. Doch waren sie sich stets der besonderen Verantwortung bewusst, die das demokratische Deutschland für Frieden und Freiheit trägt.
Die Furcht vor einem enthemmten Deutschland wäre schlagartig wieder da.
Gemäss Umfragen erreichen die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP in östlichen Bundesländern zusammen knapp 20 Prozent. Die AfD liegt bei 33 Prozent. Der Neofaschist Björn Höcke, starker Mann in der AfD, bezeichnet das Holocaust-Denkmal in Berlin als "Denkmal der Schande", nennt die traditionellen Parteien "entartet" und findet es problematisch, dass Adolf Hitler "als absolut böse dargestellt" wird.
Auf der entgegengesetzten Seite lässt sich eine prominente Abgeordnete der sozialistischen Partei "die Linke" wie eine Königin vor einem Fahnenmeer der chinesischen Diktatur im Pseudoparlament von Beijing ablichten. AfD wie "die Linke" nehmen Aggressor Putin in Schutz. Für sie ist sein Blut-und-Boden-Feldzug gegen die Ukraine eine legitime Interessenwahrung angesichts einer angeblichen Arroganz des Westens.
"Die Linke" und grosse Teile der AfD wollen weg von der Nato. Damit würde das westliche Bündnis fundamental erschüttert, während vor seiner Tür ein brutaler Krieg tobt. Die Furcht vor einem enthemmten Deutschland, das sich mit Russland die Länder Mittel- und Osteuropas als Vasallengebiet aufteilt, wäre schlagartig wieder da.
Die traditionellen Parteien sind den Herausforderungen nicht mehr gewachsen.
Die Erosion des politischen Zentrums, die hochschiessenden Extreme, die Salonfähigkeit von antisemitischem, rassistischem und totalitärem Gedankengut haben Gründe. Die traditionellen Parteien sind den Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Sie schaffen es nicht, Lösungen zu entwickeln, die die Bevölkerung mitträgt. Die Sorgen der Leute, etwa bei der Energieversorgung, werden nicht ernst genommen. Wer Migrationsprobleme anspricht, wird reflexartig in die rechte Ecke gestellt, was den Extremisten zusätzlich Schub verleiht.
Die Namen der Berliner Bürgermeisterinnen und Bürgermeister kennt man nicht mehr. Statt strategisch denkender Vollblutpolitiker, wie sie die Bundesrepublik früher am Band hervorbrachte, steht der zaudernde Verwalter Olaf Scholz am Steuer. Die Schaffung des Grundgesetzes oder die Vereinigung der BRD und der DDR nach dem Mauerfall wären heute nicht mehr vorstellbar.
In badischen Lokalen werden wir weiterhin gut essen. Dass Deutschland im Fussball nun wichtige Spiele verliert, statt sie wie früher fast immer zu gewinnen, wird uns kaum Bauchweh machen. Die zunehmende Instabilität unseres Nachbarlandes, seine rasant abnehmende Gestaltungskraft und das Erstarken extremer Kräfte muss uns in der Schweiz und in Basel aber Sorge bereiten.
2. Oktober 2023
"Mit den falschen Dingen radikal aufhören"
"Indem wir die Wähler durch das politische Parteiensystem spalten, können wir sie dazu bringen, ihre Energie in dem Kampf für unwichtige Fragen zu stecken." (Montagu Norman, ehem. Gouverneur der Bank von England, 1924; Autorenschaft durch sogenannten Faktencheck der Deutschen Presse Agentur dpa in Frage gestellt.) – In der Schweiz scheint immer alles besser. Aber trotz immer noch mehr Aufwand findet auch hier in existenziell relevanten Sachfragen kaum mehr eine fachlich und politisch fundiert zielführende Auseinandersetzung statt. So kommt es im Rahmen der maroden parlamentarischen Parteiendemokratie von links über die Mitte bis nach rechts nicht zu Entscheidungen, die zu für alle bestmöglichen Lösungen führen. Damit es wahrhaftig und wirklich mit der Politik etwas werden kann, braucht es den Mut, mit den falschen Dingen radikal aufzuhören. Erst dann wird Raum frei für grundlegend und wertvolles Neues, das es sowohl individuell als auch lokal, national und global für ein friedvolles und gutes Leben für alle unabdingbar braucht.
Ueli Keller, Allschwil
"Wir haben Korrektive, die Deutschland nicht hat"
Lieber Herr Waldner, lieber Paul, die Schweiz hatte ich natürlich im Hinterkopf, als ich meine Kolumne zu Deutschland verfasste. In der Schweiz schauen wir ja primär auf Deutschland, das wie wir föderalistisch organisiert und wirtschaftlich stark ist. Ein Grundübel, das zum Erstarken extremer Kräfte und zur Erosion stabiler gesellschaftlicher Grundlagen führt, ist meines Erachtens die zunehmende Reformunfähigkeit der traditionellen Parteien. Probleme werden verschleppt statt gelöst. Das sehen wir leider auch bei uns. Allerdings haben wir mit den Volksrechten (Referendum, Initiative) Korrektive bzw. Ventile, die Deutschland nicht hat. Mit Rücksicht darauf fallen Entscheide der Regierung und des Parlaments bei uns häufig volksnaher und pragmatischer aus. Wohl auch deshalb ist die politische Landschaft bei uns (noch) stabiler als in Deutschland. Wir tun aber gut daran, negative Entwicklungen im Auge zu behalten.
Marc Schinzel, Binningen
"Bei Rechtsextremisten anbiedern"
In der Kolumne wird das zunehmend besorgniserregende Erstarken der extremen Rechten in Deutschland treffend beschrieben. Leider ist dies nicht nur in Deutschland der Fall. Auch in anderen Ländern kann beobachtet werden, dass Demagogen, Hetzer und Populisten an Boden gewinnen. Die Schweiz darf hier auf keinen Fall ausgenommen werden. Die traditionellen demokratischen Kräfte tun sich schwer, adäquate Antworten auf diese Entwicklung zu finden. In der Zeitung Der Bund konnte am vergangenen Samstag im Artikel "Jetzt sind die Grünen das Feindbild Nummer 1" nachgelesen werden, wie sich in Deutschland konservative Kräfte, vornehmlich aus der CSU, zunehmend die Rhetorik der AfD zu eigen machen und gegen Andersdenkende hetzen. Es ist alarmierend, wenn sich konservative Parteien auf diese Art und Weise bei Rechtsextremisten anbiedern. Es scheint fast, als hätten Teile der Konservativen nichts aus der Geschichte gelernt und/oder alles vergessen und verdrängt.
Thomas Zysset, Bolligen
"Weit von ähnlicher Entwicklung entfernt?"
Sind wir in der Schweiz sehr weit von ähnlicher Entwicklung entfernt? Hat sich nicht auch bei uns die Mitte, die bürgerliche Politik von dem lauten, aggressiven Auftreten von Links (Umweltschutz, Einwanderung) und Rechts (Überfremdung), flott sekundiert von den Medien, in die verschüchterte, stille Ecke treiben lassen? War denn nicht der Umweltschutzgedanke so wirtschaftsfeindlich, dass die Mitte reflexartig in Angststarre verfiel (und die emotionale Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft zuliess), bis das Wasser Oberlippe-Unterkante steht? Und – ist denn nicht genauso erschreckend der Gedanke, ein Unmensch zu sein, wenn man der "Völkerwanderung" entgegensteht? Womöglich sogar wieder "Das Boot ist voll" laut ausspricht? Ja – Deutschland ist schlimmer dran. Die Schweiz kann "falschen Flüchtlingen" etwas besser Grenzen setzen, und andererseits echte Flüchtlinge sehr viel besser integrieren. Beim Umweltschutz geht es lautloser voran, auch wenn Bürokratie und Schikanepolitik (besonders – aber nicht nur – im Verkehr) das "normale" Volk verärgert. Politik von links und von rechts ist (bewusst!) emotional geprägt; sie überlagert das Denken. Das ist nur möglich, wenn Politiker (und Medien!) sich scheuen, der hässlichen Emotionspolitik echte und verständliche (!) Lösungen entgegenzusetzen, welche die Wurzel der Emotionen anerkennt (und ihr mit Lösungen gerecht wird)! Keine Lösung ist eben auch nichts!
Peter Waldner, Basel
"Was ist in der Schweiz anders?"
Lieber Marc, was ist in der Schweiz wirklich anders? EU/Schweiz-Dossier, Gesundheitskosten, Infrastruktur, Klima, Fachkräftemangel etc. Hoffentlich bringen die Wahlen in drei Wochen etwas Schwung in die Politik.
Paul Hofer, Oberwil