Wenn das Recht an Grenzen stösst
2023 sorgte im Baselbiet ein interessanter Fall für Schlagzeilen. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Gelterkinden-Sissach (nachstehend: Kesb) setzte einer Mutter eine Frist. Spätestens am 15. September müsse sie die Masernimpfung ihrer beiden acht und zehn Jahre alten, in ihrer Obhut befindlichen Buben nachweisen. Sonst sei die Impfung "mittels polizeilicher Vollstreckung" zwangsweise durchzuführen.
Der Vater der Buben, der in einem Scheidungsverfahren mit der Mutter stand, verlangte die Masernimpfung der Kinder seit 2016. Die Mutter wehrte sich vorerst erfolgreich dagegen. Mit Urteil vom 16. Juni 2020 hob das Bundesgericht dann aber einen Entscheid des Baselbieter Kantonsgerichts auf und hielt fest, die Anordnung der Impfung sei als Kindesschutzmassnahme "grundsätzlich angezeigt".
Das Bundesgericht stützte sich auf die Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit. Die Masern seien hochansteckend. In rund zehn Prozent der Fälle komme es zu schweren Komplikationen wie Lungen- und Mittelohrenentzündungen, Gehirnentzündungen, sogar Todesfällen. Die Masernimpfung schütze davor. Angesichts der "gesundheitlichen Risiken und Gefahren, denen ein Kind ohne Impfschutz gegen Masern ausgesetzt ist", ertrage "die Frage, ob eine Masernimpfung durchzuführen ist oder nicht, unter den Eltern keine Pattsituation".
Die Einstellung der Eltern verändert das Ergebnis einer medizinischen Risikoabwägung ja nicht.
Als "Paradigmenwechsel" (so die Basler Zeitung am 12.09.2023) ist zu werten, dass das Bundesgericht die Uneinigkeit zwischen Mutter und Vater nicht zugunsten eines Impfverzichts auflöste, wie es der bisherigen Praxis entsprochen hätte. Das Gericht befand aufgrund einer Risikoabwägung, das elterliche "Patt" sei zugunsten der Impfung zu beenden.
Dieser Vorrang der Medizin gelte aber nur bei Uneinigkeit der sorgeberechtigten Eltern. Wehren sich beide Eltern gegen die Impfung, sei ihr gemeinsamer Wille massgebend. Das ist bemerkenswert, weil die Einstellung der Eltern das Ergebnis einer medizinischen Risikoabwägung ja nicht verändert.
Warum machte das Bundesgericht die medizinische Optik nicht zum generell gültigen Massstab bei der Impfung von Kindern? Bekam es Angst vor dem eigenen Mut?
Ich denke nicht. Das Kindeswohl ist breit zu verstehen. Neben physischen Faktoren spielen auch psychische Aspekte eine Rolle. Eltern wie Kesb sind einem gesamtheitlichen Kindeswohl mit physischen und psychischen Facetten verpflichtet.
Wachsen Kinder in einer Familie auf, in der sich die Eltern kategorisch weigern, ihren Nachwuchs gegen Masern impfen zu lassen, kann eine psychische Belastung der Kinder durch eine behördlich angeordnete oder gar erzwungene Impfung die (zunächst) abstrakten Gefahren einer Masernerkrankung überwiegen.
Ein staatliches "all inclusive" von der Wiege bis zur Bahre ist für Liberale eine Horrorvision.
Doch was ist, wenn ein Kind an Masern schwer erkrankt, ja stirbt, weil die Impfung ausblieb? Niemand sucht sich seine Eltern aus. Für mich als Sohn eines Chemikers, der in der Life-Science-Branche tätig war, ist der virulente Eifer von Impfgegnerinnen und Impfgegnern kaum nachvollziehbar. Aber der Spielraum, den die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder haben, ist gross. Das ist gewollt. Keine freiheitliche Gesellschaft will ihre Kinder in die umfassende Obhut der Behörden geben. Ein staatliches "all inclusive" von der Wiege bis zur Bahre ist für Liberale eine Horrorvision.
Wie ging es in Sissach weiter? Nachdem die Kesb die Frist für den Impfnachweis gesetzt hatte, versammelten sich zahlreiche Impfgegner zu einer "Mahnwache" und richteten sich auf dem Kesb-Gelände häuslich ein. Am 21. Dezember 2023 verkündete die Kesb, die Impfung werde nicht durchgesetzt. Die Kinder seien wochenlang aus der Schule genommen und ihr Kontakt zum Vater abgebrochen worden. Die Mutter habe die Kinder "mit vollem Namen in die Öffentlichkeit gestellt". Die Kesb sah darin eine "Gefährdungssituation, die über die eigentliche Frage der Impfung weit hinausging" (Zitate aus bz vom 21.12.2023).
Dieser Ausgang ist in jeder Hinsicht unbefriedigend. Das Bundesgericht traf 2020 einen Entscheid im Sinne des Kindeswohls, der nicht umgesetzt wurde. Der Ende 2023 von der Kesb Sissach-Gelterkinden gefällte Entscheid, auf eine Durchsetzung der Impfung zu verzichten, erfolgte ebenfalls mit Blick auf das Kindeswohl. Er stellte sich wegen der renitenten Haltung der Mutter allerdings ganz anders dar als 2020. Die vor Gericht unterlegene Mutter setzte ihren Willen gegen den Vater, die Justiz und die vollziehenden Behörden vollständig durch.
Umgekehrt wäre eine polizeilich vollstreckte Impfung auch keine gute Option gewesen, weil sie die belastete Situation der Kinder zweifellos weiter verschärft hätte. Wir müssen uns wohl eingestehen, dass das Recht hier an Grenzen stösst.
Wie denken Sie darüber?
22. Januar 2024
"Einer der Zwänge"
Die vielschichtig schwierige Situation finde ich in diesem Beitrag sachorientiert objektiv beschrieben. Sich impfen lassen zu müssen, ist einer der Zwänge einer autoritär-bürokratisch-hierarchisch-totalitär und industriell-materialistisch-mechanistisch-technokratisch begründeten "Zuvielisation". Manifest in einer Gesellschaft, die Freiheit predigt, in Tat und Wahrheit aber Menschen psychisch und/oder physisch sozusagen in Haft nimmt.
Dies immer gekoppelt an das Narrativ, es wäre nur zu ihrem Besten: Was es nicht einfach macht, die strukturell ausgeübte Gewalt zu erkennen. Ein Muster, das in der Schweiz beispielsweise auch den Schulbesuchszwang kennzeichnet: Er generiert Probleme, die sich mit einem frei sich Bilden wohl kaum ergeben würden.
Innere Zwänge und abhängiges Denken halten uns gefangen, selbst wenn wir äusserlich "auf freiem Fuss" sind. Frei zu werden wer wir sind, bedeutet, sich aus dem Laufgitter von menschenunwürdigen Zwängen zu befreien.
Ueli Keller, Allschwil
"In höchstem Masse erstaunt"
Das ist ein Musterbeispiel aus dem Staatsapparat. Parallelen gabs schon vor ein paar Jahrzehnten, als unehelich geborene Kinder den Müttern weggenommen wurden, zum Kindeswohl, wohlverstanden! Wir schütteln heute die Köpfe. Mit Recht.
Ich bin in höchstem Masse erstaunt, dass sich das Bundesgericht anmasst, einer Mutter, offenbar mit Sorgerecht, die Impfung ihrer Kinder aufzuzwingen! Eine Mutter hat im jahrelangen Erziehungsprozess eine Riesenmenge Entscheide zu fällen, risikoreichere mit grösster Tragweite.
Der Staat darf sich wieder einmal mehr auf die Grundmaxime besinnen, dass Erziehung, und damit auch die Pflege der Kinder, die Aufgabe der Erziehungsberechtigten ist. Die Kesb hat dort aktiv zu unterstützen, wo dies vernachlässigt wird, und dort einzugreifen, wo sich Verwahrlosung einstellt, wo die Obhut nicht wahrgenommen wird.
Meine jahrzehntelange Erfahrung als Lehrer hat das umgekehrte Bild gezeigt, nämlich, dass die Kesb öfters auf dringende Anfragen aus der Lehrerschaft nicht aktiv wurde, obwohl die gesundheitliche Entwicklung eines Kindes gefährdet war. Natürlich ohne Konsequenzen!
Der Kesb ist hier zugute zu halten, dass sie diese erfolglose Intervention aufgegeben hat, vielleicht aufgeben musste, obwohl darauf hätte gepocht werden können, das Recht sei durchzusetzen.
Die Diskrepanz zwischen gesundem Menschenverstand und Rechtsentscheid ist jedenfalls deutlich. Die Richter wären gut beraten, bei ihren Rechtssprechungen den gesunden Menschenverstand als Basis zur Überprüfung ihrer Entscheide zu konsultieren. Keine Leichtigkeit, ich weiss, doch Rechtsentscheide sind selten eine Leichtigkeit.
Viktor Krummenacher, Bottmingen
"Märchen wurden verbreitet"
Als ich in die Schule ging, waren Masern eine sogenannte Kinderkrankheit. Jeder bekam sie und war danach immun, sein ganzes Leben lang. Geimpft wurde eigentlich nur gegen tropische Krankheiten, wenn man in solche Länder verreiste. Es gab das staatliche Serum-und Impfinstitut, das dann Bundesrat Pascal Couchepin aufhob, was mich schon damals ärgerte, da ich Biochemie studierte.
Dann sahen natürlich die pharmazeutischen Firmen die enormen Chancen, hier einzusteigen. Märchen wurden verbreitet, wie viele Leute an diesen Kinderkrankheiten gestorben wären (mir ist niemand bekannt, aber Opfer der Covid-Impfung kenne ich), also wurde staatlicher Impfzwang verordnet.
Ich gebe zu, wenn ein Mädchen bis zu seinem 18. Lebensjahr keine Röteln hatte, sollte es geimpft werden. Dasselbe gilt für einen Jungen ohne Mumps. Das Beste wäre wahrscheinlich, wenn man zur Situation von damals zurückkehren könnte. Das ist aber schwer möglich. Vielleicht wäre es besser, mit den beiden Impfungen zu warten, bis die Kinder erwachsen sind. Und natürlich sollten die Impfstoffe geprüft werden.
Dass sich Gerichte damit beschäftigen, finde ich wirklich nicht gut. Jeder sollte frei entscheiden können und niemand zu einer Impfung gezwungen werden.
Alexandra Nogawa, Basel