Freiheit ist Aufbruch ohne Bitterkeit
Unser Nationalfeiertag ist vorüber. Die erste Woche danach ist angebrochen. Es wäre allerdings übertrieben zu sagen, die Normalität hätte uns wieder.
Als Schweizerinnen und Schweizer haben wir es nicht so mit patriotischem Pathos. Schweizer Fahne am Balkongeländer? Wir sind doch hier in der Stadt, in der Agglo, und nicht in den Bilderbuch-Bergen, wo die geraniengeschmückten Holzchalets stehen! Die Leute könnten am Ende noch denken, ich sei rechtsaussen …
Andersherum geht der Reflex im Fussball. Spielt unsere Nationalmannschaft, Männer oder Frauen, sitzen wir kurz vor dem Anpfiff leicht verkrampft vor dem Fernseher. Wer singt zu schmallippig, wer gar nicht? Können die nicht einmal anständig hinstehen, wenn unsere Hymne läuft? Guarda gli Azzurri, mit welcher Inbrunst sie sich in die Brust werfen!
In Basel, im Baselbiet, in der ganzen Schweiz dürfen wir sein, wie wir es wollen und wie es uns zumute ist.
Vielleicht sollten wir uns weniger verkopfte Gedanken darüber machen, wie wir zu unserer Heimat stehen und was andere falsch machen. Auch wenn wir eingebettet sind in feste Abläufe des Alltags und an persönliche Grenzen stossen: In Basel, im Baselbiet, in der ganzen Schweiz dürfen wir sein, wie wir es wollen und wie es uns zumute ist. Emotional, ruhig, ausgelassen oder nachdenklich. Und das nicht nur am 1. August.
Für mich ist das Rütli am schönsten, wenn ich die Wiese vom Urnersee aus vorbeiziehen sehe, an einem Herbsttag mit tiefblauem Himmel, ein sattes Grün, umgeben von Wald. Still, ohne ausgreifende Reden, die in sinnige Worte fassen wollen, was mir die Seele besser erschliesst.
Das Rütli, die Freiheit, sie liegt für mich auch auf der Binninger Höhe, wenn im Sommer die Sonne über den Hügeln des Sundgaus untergeht und ich mir vorstelle, dass ich mit dem Velo losradeln und nach etwa 570 Kilometern Fahrt an den Champs-Elysées absteigen könnte. Freiheit ist die Zeit, die ich mir an einem Adventsabend nehme, um an der Pfalz innezuhalten, auf den dunklen Rhein und die funkelnden Lichter der Mittleren Brücke zu blicken und an die Lieben zu denken, die ich vermisse. Mit dem Fluss wandern die Gedanken.
Freiheit bedeutet für mich aber auch, in einer wirtschaftlich prosperierenden Region wohnen zu dürfen, die allen Kindern einen Schulplatz garantiert und fast allen Leuten eine Arbeitsstelle bieten kann, die ihrer Ausbildung entspricht. Die reichhaltige Kultur, die vielfältige Natur und unser grenzübergreifender Lebensraum, der uns erlaubt, am Morgen in Basel einzukaufen, am Nachmittag im Elsass zu joggen und am Abend die badische Küche zu geniessen.
All das ist Teil unseres freien, privilegierten Lebens. Selbstverständlich ist das nicht: Der verbrecherische Angriffskrieg, den Russland seit fast eineinhalb Jahren gegen die Ukraine führt, zeigt drastisch, wie fragil unsere Freiheit ist und wie rasch sich der gewohnte Alltag in blanken Horror verwandeln kann. Etwa in Butscha, wo zahlreiche minderjährige Mädchen und betagte Frauen vielfach vergewaltigt und dann ermordet wurden.
Im Wissen um diese Gräuel habe ich wenig Verständnis für Leute hier, die "Liberté" rufen und in den sozialen Medien schrill posten, der Bundesrat habe die Covid-Pandemie benutzt, um in der Schweiz eine Diktatur mit chinesischen Dimensionen zu errichten.
Schätzen und nutzen wir unsere Freiheit in all ihren Facetten.
In seiner eindrücklichen Rede "I have a Dream", die Martin Luther King am 28. August 1963 vor dem Lincoln-Memorial in Washington hielt, bat der Pfarrer und Bürgerrechtler die über 200'000 meist afroamerikanischen Zuhörerinnen und Zuhörer, ihr brennendes Verlangen nach Freiheit nicht mit Bitterkeit und Hass zu stillen: "Let us not seek to satisfy our thirst for freedom by drinking from the cup of bitterness and hatred." Angesichts des Kampfes gegen den brutalen Rassismus in den Südstaaten, den King und sein Publikum täglich schmerzlich erfuhren, ist das eine bemerkenswerte Mahnung.
Freiheit gedeiht nicht auf dem Boden von Hass, Zynismus und der Abwertung Andersdenkender. Freiheit ist Aufbruch ohne Bitterkeit. Als selbstbestimmte Personen können wir zuversichtlich neue Wege gehen, ohne Bewährtes, das unsere Vorfahren schufen und über Jahrhunderte gepflegt haben, geringzuschätzen oder zu zerstören.
Denken wir daran, dass im Osten Europas, jeden Tag und jede Nacht, Menschen unter Einsatz ihres Lebens für ihre elementaren Freiheiten kämpfen müssen. Egal, ob wir die Schweizerfahne hissen oder nicht und ob wir die Nationalhymne singen, draussen oder vor dem Fernseher, um unseren Fussballerinnen und Fussballern einen telepathischen Energieschub zu geben: Schätzen und nutzen wir unsere Freiheit in all ihren Facetten – persönlich und mit Vertrauen in die Ideen und Kraft unserer Mitmenschen.
Es lohnt sich, für die Freiheit einzustehen. Definitiv errungen haben wir sie nie.
7. August 2023
"Kann mich nur wundern"
Ich kann mich nur über den Leserbriefschreiber Paul Hofer wundern, der sofort in die Nato will, eine Organisation, die für Kriege in Europa verantwortlich war und unzählige Opfer auf dem Gewissen hat. Ich weiss, ich bin nicht mit der jetzigen OnlineReports-Redaktion auf einer Linie, die für die Mainstream-Linie ist, die da heisst: Wer gegen die Anordnungen der Regierung ist, ist böse, nur wer für die Nato und die EU ist, ist gut.
Alexandra Nogawa, Basel
"Unvereinbar mit Herrschaft"
Es sind drei Freiheiten, "die für den grössten Teil der Menschheitsgeschichte als selbstverständlich galten, nämlich die Freiheit, sich an einen andern Ort zu begeben, die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren, und die Freiheit, soziale Realitäten zu verändern oder neu zu erschaffen". (David Graeber und David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, 2021) Freiheit ist unvereinbar mit Herrschaft. Herrschaft kann mit Macht und Gewalt, mit Wissen und Kommunikation sowie mit Engagement und Charisma begründet werden. Für Freiheit braucht es hingegen die Kraft und die Kokreativität des Herzens.
Ueli Keller, Allschwil
"Leider sind es nur Worte"
Gut geschrieben, aber leider sind es nur Worte. Wir müssen wirklich mehr tun, offen auf die NATO und die EU zugehen. Der Bundesrat und das eidgenössische Parlament tun viel zu wenig – leider erstarren wir so in unserem Wohlstand.
Paul Hofer, Oberwil
"Besinnlich und berührend"
Danke für diese schöne, besinnliche, berührende Kolumne. Gerne mehr von dieser Sorte!
Christoph A. Müller, Basel