Über die Schuld an der Klimakrise
Seit ich Soziologie studiere, schicken mir meine Eltern, Familienmitglieder oder Bekannte in diesem Alter sämtliche Zeitungsartikel weiter, in denen das Wort "Gesellschaft" fällt. Zumindest fühlt es sich manchmal so an.
So habe ich zu meinem Geburtstag vor zwei Wochen auch ein dünnes Büchlein – natürlich von einem Soziologen geschrieben – erhalten. Über den Autor der Erzählung "Landkrank", Nikolaj Schultz, wurden mir zuvor schon zwei Artikel geschickt, in denen dieser als Nachwuchsstar der Soziologie gehandelt wird. Zum Glück weiss ich, dass dieses Weiterleiten familienseits nur aus Interesse geschieht und nicht, um Druck aufzubauen, es Schultz oder anderen gleichzutun.
Ich habe "Landkrank" in zwei Zugfahrten verschlungen. Danach war ich frustriert.
In "Landkrank" geht es um Fragen der Verantwortung jeder einzelnen Person in der Klimakrise und um die Angst und Orientierungslosigkeit, die das Wissen um die eigene Mitschuld an der Krise auslöst. Der Autor wird deshalb als mögliche Stimme einer ganzen Generation gehandelt. Meiner Generation.
Ich habe "Landkrank" in zwei Zugfahrten verschlungen. Danach war ich frustriert. Nicht wegen des Inhalts, über den man auf einer theoretischen Ebene streiten könnte. Mich frustriert es, dass ein Buch zur Stimme meiner Generation erklärt wird, in dem es einmal mehr um den Umgang mit der Krise respektive der individuellen Mitschuld geht.
Als Stimme meiner Generation wünsche ich mir Texte, die benennen, was strukturell zur Krise führt und was grundlegend zu verändern ist, um überhaupt noch etwas zu retten.
Die Reduktion auf Fragen der eigenen Mitschuld an der Klimakrise – übrigens eine beliebte Strategie, um das Problem zu individualisieren und nicht über grundlegende Veränderungen reden zu müssen – wird dem Buch zwar nicht gerecht. Dass die Rezensionen, die ich gelesen habe, vor allem die Mitschuld an der Krise und das daraus resultierende Gefühl von fehlender ethischer und ökologischer Orientierung betonen, ist jedoch in doppelter Hinsicht bezeichnend.
Es ist bequemer, nach Worten für Emotionen zu suchen, als zu benennen, was zu tun wäre.
Entweder ist es symptomatisch für eine Gegenwart, in der wir uns damit abgefunden haben, dass wir höchstens noch einen Umgang mit der eigenen Schuld an der Krise finden können. Oder es ist symptomatisch für die älteren Generationen, die Bücher wie dieses zur Stimme einer jungen Generation erklären. Es ist für sie bequemer, nach Worten für die Emotionen angesichts der Krise zu suchen, als zu benennen, was zu tun wäre oder bereits längst hätte getan werden müssen. Beides erfüllt mich mit Sorge.
Immerhin ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, auch über Generationen hinweg die heiklen Schuldfragen zur Klimakrise anzusprechen. Solange mir weiterhin alles weitergeleitet wird, was irgendwie mit Gesellschaft zu tun hat.
1. April 2024
"Ist es dann überhaupt noch 'Schuld'?"
Der letzte Abschnitt ist irgendwie bezeichnend für die Verirrung; da steht: "Immerhin ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, auch über Generationen hinweg die heiklen Schuldfragen zur Klimakrise anzusprechen."
Ist es wirklich nötig, "Schuldfragen" zu diskutieren? Dabei ist doch klar, dass niemand sich schuldig fühlt, weil "Schuld" – genau gleich wie "Wahrheit" – eine ausgesprochen subjektive Angelegenheit ist, die stets von einem Standpunkt ausgeht, für den kaum mal jemand wirklich etwas kann, weil der Weg dorthin eher zufällig ist.
Wollen die Soziologen etwa darum herum kommen, sich über die "Natur" und ihre Vorgaben an uns Lebewesen Gedanken zu machen, wenn sie nach der richtigen Schuldfrage suchen? Da finden sich ganz viele – auch Antworten. Soziales Verhalten, Zusammenleben, Ethik – einfach alles, was uns von den anderen Säugetieren unterscheidet, basiert auf denselben natürlichen Grundlagen. Die bestimmen uns weit mehr, als wir wahrhaben wollen; auch (besonders) wenn sie eben die Ausgangslage für "Schuld" ist. Ist es dann überhaupt noch "Schuld"?
Peter Waldner, Basel