Theater Basel, Schauspielhaus
Schweizer Erstaufführung
"Die Ereignisse"
Autor: David Greig
Inszenierung/Ausstattung: Daniela Kranz
Dramaturgie: Sabrina Hofer
Musik: John Brown
Mit Inga Eickemeier, Elias Eilinghoff, Stephen Delaney (Pianist)
An der Premiere mit dem Motettenchor Region Basel (die Chöre wechseln zu jeder Aufführung)
Von der Hilflosigkeit nach dem Massenmord
Der Lärm der Todesschüsse im Pariser Club "Bataclan" ist medial noch kaum verklungen, da richtet ein Mann mit Sturmgewehr auf der Kleinen Bühne in einem multikulturellen Chor ein Blutbad an. Theaterdirektor Andreas Beck konnte nicht ahnen, dass das Stück "Die Ereignisse", das er bereits vor zwei Jahren in Wien im Schauspielhaus aufführen liess, nun kurz vor der Schweizer Erstaufführung durch entsetzliche Aktualität aufgeladen würde.
Dass es Beck mit dem Anliegen des Stoffs ernst ist, zeigt sich nicht nur daran, dass die Aufführung sich sämtlicher Effekthascherei enthält (der Mordakt etwa wird gar nicht gezeigt) oder gar auf die Pariser "Ereignisse" mit Billig-Aktualisierung Bezug nimmt. Er hat das Stück, das der schottische Dramatiker unter dem Eindruck von Breiviks Massenmord auf der norwegischen Insel Utoya schrieb, auch gänzlich neu besetzt und neu inszenieren lassen; die neue Regisseurin Daniela Kranz hat das Stück im Vergleich zur Wiener Aufführung anders fokussiert.
Nämlich etwas weg vom Gegensatz "Hier die multikulturelle Gesellschaft, da der rechtsextreme Täter", dafür mehr auf die Opferperspektive. Mit der das Massaker überlebenden Chorleiterin Claire leiden wir mit, die sich als Pfarrerin mit ihrem Drang zu Überverantwortung quält, die den Täter "verstehen" und den Chor mit esoterischen Ritual-Übungen "heilen" will, bevor sie sich selbst und ihre Gefühlsabgründe anzunehmen versucht.
Mit der leicht anderen Proportionierung wird auf einmal klar, warum sie, wenn sie mit dem Täter, dem Vater des Täters, ihrer Lebenspartnerin Katrina, ihrem Psychologen, einem Rechtspolitiker (und weiteren fünf Personen) spricht, immer nur den einen Spielpartner, Elias Eilinghoff, vor sich hat: Sie kann nur mehr dieses eine Gesicht sehen, das des Täters.
Inga Eickemeier ist nicht die warmherzige Dulderin wie Franziska Hackl in Wien, sondern eine dünnhäutige, seelisch geschürfte Intellektuelle. Ihr übermotiviertes Getue nervt, ihre ironischen Anflüge aber machen betroffen. Eickemeier zeigt glaubhaft ein Wesen, das wohl nicht erst seit den "Ereignissen" ohne tiefere Verankerung lebt. Verwundet wie ein Tier rast Claire übergangslos vom einen zum Nächsten: Sie fantasiert von einem Sex-Akt mit dem Täter, um ihn vom letzten Schuss abzuhalten, dann von Folter, mit der sie ihn tödlich schwächen will. Gleich darauf steigt sie auf ein Brückengeländer, um runter zu springen, besucht schliesslich den Täter im Gefängnis, um ihn zu vergiften.
Nicht aber in ihrer psychologischen Figur – und das ist der Clou der Aufführung – besteht das Drama, es handelt von unserer gesamtgesellschaftlichen Hilflosigkeit nach der Tat, von unseren mentalen, aufgesetzten Lebenskonzepten vor der Tat. Da gibt es noch den alten Gott, zu dem man (Claire) betet, wenn es schlecht geht, oder andererseits das Ausrasten Katrinas, wenn sie ihrer Lebensgefährtin entgegenbellt, dass "Scheisse" (der an sich absehbare Massenmord) halt "einfach passiert".
Da ist der Täter, im Stück bloss "Der Junge" genannt, der mit sich nichts anderes anzufangen weiss, als geltungssüchtig "eine Spur" in der Geschichte hinterlassen zu wollen, der sich dazu in mittelalterliche Krieger- und Männlichkeitsfantasien hineinsteigert, die er mit Fremdenhass unterfüttert. Gewiss, man kann in ihm bloss den typischen, gesellschaftlich isolierten Nazi mit Alkoholikervater und Hang zu Ego-Shooter-Spielen sehen, oder aber hier sehen, dass auch diese Festlegungen letztlich viel zu wenig aussagen. Schliesslich der Chor, der – auch von Claires Übereifer angewidert – nur mehr "vergessen" und "Spass" haben will.
Als (negative) Bestandesaufnahme führt einen das Stück nur an diese Schwelle unserer mangelhaften Empfindungskultur. Insofern kann man die Basler Aufführung durchaus als gültigen Kommentar zur gesellschaftlichen Nachbearbeitung der Pariser "Ereignisse" lesen, wenn auch junge Intellektuelle vor den ausgestreuten Blumen hilflos das "Aux armes, Citoyen!" (Zu den Waffen, Bürger) aus der "Marseillaise" anstimmen. In der Aufführung ist es der warmgetönte Refrain des Schlussstückes "Wir sind hier", und er wirkt sentimental. Also: entweder Kampfruf oder sentimental, aber was sonst?
Dem redlichen Bemühen um einen ehrlichen Blick auf die Dinge und dem engagierten Ensemble-Spiel wurde langer warmer Applaus gespendet. Da und dort hätte ein eher innerliches Spiel mit weniger äusserlichem Agieren für stärkere Prägnanz gesorgt. Die Intensität hat genügt, dass das Publikum konzentriert folgte, und man den kargen Chor-Probesaal mit den nackten Wänden und den Leuchtstoffröhren vergass.
Der Intention des Autors folgend führt das Theater Basel das Stück jeden Abend mit einem anderen Chor aus der Region vor, und auch an verschiedenen Spielstätten, ab nächstem Jahr auch im Baselbiet.
20. November 2015