Spekulationen über den Begriff Spekulation
Der Begriff Spekulation hat eine schillernde konjunkturelle Geschichte. Zunächst meint er, von seinem lateinischen Ursprung "speculum" (Spiegel) abgeleitet, dass der Mensch mit einem Spiegel vergleichbar ist, in welchem Gott in Erscheinung tritt. Die Ursache (Gott) wird durch ihr Werk und ihre Wirkung (den Menschen) sichtbar. Das war dann aber doch zuviel des Guten.
Der in dieser Auffassung liegende Platonismus beziehungsweise Idealismus wurde moniert mit dem Hinweis, dass eine falsche Ursache oder Annahme kein korrektes Ergebnis erzielen kann und Rückschlüsse dieser Art daher unzulässig seien. Der Begriff Spekulation wurde jetzt als etwas Negatives interpretiert, als etwas, das auf keiner konkreten Erfahrung beruht und sozusagen aus der Luft gegriffen ist: Eine Philosophie der Luftikusse.
Bis heute hat dieses Frivole und Anrüchige, das dem Spekulieren unterstellt wird, seine Gültigkeit behalten. Spekulation ist Hochstapelei. Börse und Finanzwelt sind das Exempel dafür.
Aber auch diese negative Einschätzung muss präzisiert werden. Im Unterschied zur deutschen Philosophie, die im Allgemeinen ein streng systematisches Denken ist, ist die französische eher ein spekulatives, das heisst fragendes, suchendes, sogar spielerisches Denken. Man erinnert sich noch, wie Michel Foucault einmal erklärte: "Je me suis trompé." Ich habe mich geirrt. Kann ja vorkommen.
Spekulieren bedeutet unter diesen Voraussetzungen, die Verhältnisse zu vergleichen, Alternativen zu entwickeln und die sich anbietenden Möglichkeiten abzuwägen.
Eigentlich geht die spekulative Philosophie bis zu René Descartes zurück ("Ich denke, also bin ich"), der in einer Novembernacht 1619 in Ulm in einem Zimmer den Ofen rasseln hörte, sich fragte, was seine Träume zu bedeuten hätten, und daraus die "Fundamente einer wunderbaren Wissenschaft" ableitete. In der Kraft der Phantasie lag für ihn ein spekulatives Moment. Was ist Wahrheit, was ist Täuschung, und mit welcher Methode kann das Eine vom Anderen entschieden werden?
Auf Grund seiner Überlegungen kam Descartes nicht zur Gewissheit, sondern im Gegenteil zum Zweifel. Nicht weil ich denke, sondern weil ich unterscheide, differenziere, zweifle, bin ich.
Heute ist spekulative Philosophie (von lat. "specere" und "speculatio", sehen, Betrachtung) ein kategorischer Imperativ – in einer Zeit, in der uns die Herrschaftspragmatiker die Welt als etwas Definitives, also Begrenztes und Endgültiges, darstellen wollen und zum Beispiel behaupten, dass es zum Markt oder zur globalisierten Wirtschaft oder zur Gesundheitspolitik von Bundesrat Couchepin keine Alternative gäbe. Auf diese Weise sollen die Menschen angehalten werden, sich mit den real existierenden Verhältnissen abzufinden, ohne zu fragen, warum sie so sind, wie sie sind, und nicht anders.
Der Pragmatismus ist unter diesen Umständen ein diktiertes Denken, das nicht vorwärtsbringt. Also verteidigen wir mit dem Recht auf Kreativität und Irrtum die Forderung nach Spekulation, Experiment, abweichender Lösung, Alternative und Offenheit.
Nach dem Grundsatz: Alles, was ist, könnte auch anders sein. Auch dieses Andere selbst.
27. April 2009