Wie das Web 2.0 die Gesellschaft veändert
Mit der Abrufbarkeit von Internet-Seiten war das Web bisher ein Distributionsmittel. Viel Abgeschmacktes ist zu finden, aber auch viel Erhellendes. Mit der Erweiterung von Protokollen, Applikationen und Services ist das Web 2.0 inzwischen zu einem Kommunikationsmittel geworden und zu einer Plattform für die Selbstdarstellung. In einer Zeit, in der das Selbstmarketing, die Selbstinszenierung, der öffentliche Auftritt fast lebenserhaltend geworden ist, kommt das Web 2.0 diesem Bedürfnis entgegen.
Im neuen Web entstehen durch die Möglichkeiten der Interaktivität neue soziale Netzwerke. In diesem interaktiven Umgang liegt die Attraktivität der neuen Formate. In "Facebook" treffen sich die Menschen zu einem neuen Typus von Community. Jeder und jede hat die Gelegenheit, sich selbst in der Netz- beziehungsweise virtuellen Öffentlichkeit zu präsentieren. Chatten in bestimmten rooms hilft bei den Schulaufgaben und erleichtert die Reparatur von Billigmöbeln.
Wenn man an den Einsatz des Webs im Wahlkampf von Barack Obama denkt, an den Einsatz von "Twitter" während der iranischen Proteste nach den Wahlfälschungen vom 12. Juni oder an das Sammeln von Unterschriften für politische Initiativen in "Facebook", kann man die volle Bedeutung und Reichweite des Web 2.0 ermessen.
Ob dabei allerdings eine neue basisorienierte Bürgerbewegung entsteht, ist eine offene Frage. Ja und Nein. Die Folgen könnten auch ganz anderer Art sein, wenn man zum Beispiel daran denkt, dass die prügelnden Kinder sich bei ihrer Tätigkeit fotografieren/filmen und die Aufnahmen anschliessend ins Netz stellen.
Blogs machen jeden und jede zum Writer-Editor. Wer will, soll seine Meinung verbreiten können. Was jedoch dabei auf der Strecke bleibt, ist die Fundierung einer Aussage. Wenn man sich die meist anonymen oder von Avataren servierten Reaktionen auf die Beiträge im Netz anschaut, fallen einem höchstens das erbärmliche Niveau und das kakophonische Durcheinander auf. Andrew Keen, der Kritiker von Web 2.0 ("Die Stunde der Stümper"), hat von einem neuen Dilettantismus gesprochen und von einem Kult des Amateurismus. Journalismus, Fachwissen, Autorität, professionelle Informationsverarbeitung und -vermittlung begegnen erstaunlicherweise einer enormen Aversion.
Am schlimmsten ist die Ausbreitung von Unterstellungen, Verdächtigungen und Lügen, die sich, einmal im Zirkulation gesetzt, kaum noch oder gar nicht mehr korrigieren lassen.
Formen des Hasses breiten sich lauffeuerartig aus. Natürlich müssen wir alle heute eine Sturzflut von fremden Meinungen über uns ergehen lassen, ohne uns wehren zu können und ohne entsprechendes Rüstzeug dazu. Während unverblümte Propaganda Auftrieb bekommt, bleibt die begründete und verantwortungsbewusste Meinungsfindung auf der Strecke. Die sogenannten hate speeches sind eine Erscheinung des Zeitalters und nur als Ergebnis der anonym erfolgten Medialisierung der Welt zu erklären.
Fundamentalismus und Rechtsradikalismus gedeihen im unkontrollierten Netz so pandemisch wie nirgends. Ein sektiererischer Kampfgeist breitet sich aus. Von einer klaren Sprache zur Anrempelei ist nur ein kleiner Schritt.
Wenn schliesslich in "Facebook" Mordaufrufe verbreitet werden wie unlängst zum Beispiel gegen den umstrittenen norwegischen Schiedsrichter Tom Henning Övrebrö oder den Abtreibungsarzt George Tiller, der am 31. Mai 2009 in Wichita, Kansas, von US-amerikanischen Fundamentalisten niedergestreckt wurde, dann muss man sich fragen, an was für einem Wendepunkt wir angekommen sind.
31. August 2009
"Fehler in Qualitäts-Titeln"
Vielen Dank für diesen spannenden Artikel. Am Bedauerlichsten scheint mir bei der ganzen Sache, dass selbst Medien, wie der "Tages Anzeiger", die einst für einen qualitativ hohen Journalismus standen, sich mit einer Online-Version begnügen, die von inhaltlichen sowie orthografischen Fehlern strotzen.
Felix Schenker, art-tv.ch, Zürich
"Damit mussten wir schon immer leben"
Die Betrachtungsweise von Aurel Schmidt macht sozusagen das Ei zum Huhn. Es ist nicht das Internet, welches die Gesellschaft verändert, sondern es sind die gesellschaftlichen Veränderungen, welche durch die Akzeptanz des Internets stattfinden. Web 2.0 ist, ohnehin ein zweifelhafter Begriff, zweitrangig.
Die Möglichkeiten, welche eine weltumspannende schnelle Kommunikation eröffnen, nimmt die Gesellschaft äusserst dankbar an. Durch die Beschleunigung wird sowohl Positives wie auch Negatives verstärkt und in der Masse multipliziert. Damit mussten wir schon immer leben, das gehört zum Menschen.
Wir sind sehr wohl an einem Wendepunkt angekommen: Die Digitalisierung des Lebens hat erst gerade begonnen. Denken Sie nur an jene Menschen, für welche diese Tools und Möglichkeiten schon von klein auf zur Verfügung stehen; sie haben ein komplett anderes Bild des gesellschaftlichen Miteinanders. Wir begreifen erst langsam, was diese Veränderungen für viele Aspekte unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens bedeuten.
Dies birgt enorme Chancen, gesellschaftlich wie wirtschaftlich, weil mehr Kommunikation zwangsläufig zu mehr Dialog führt, und mehr Dialog in der Regel zu mehr Fortschritt (und das meine ich jetzt nicht nur technologisch). Nur die bis jetzt gültigen Rezepte und ein Teil der Regeln werden dadurch zukünftig systematisch ins Leere laufen. Das ist letztlich das, was Analog-Aufgewachsene an dieser Entwicklung irritiert.
Zudem spielt eine (altbekannte) Glaubensfrage hinein: Ist Technologie Heilsbringer oder Unglück des Menschen. Das muss jeder für sich beantworten. Die Menschheit als Ganzes scheint diese Frage schon lang beantwortet zu haben.
Alain Veuve, Itingen
"Früher war es nicht besser"
Diese Ausführungen finde ich sehr interessant! Meine Gedanken dazu:
Nichts Neues unter der Sonne! Sicher ein quantitativer Unterschied zu früher. Aber es gab und gibt Kreuzzüge, Judenprogrome, eine Terrorisierung der Gesellschaft im Dritten und im kommunistischen Reich, in fundamentalistischen Staaten weltweit auch ohne Web 2.0.
Prügelnde Kinder und ihre Bilder im Netz: Früher hat man Missgeburten ausgestellt, Hinrichtungen, so grausam auch immer, auf dem Marktplatz im Angesicht der Öffentlichkeit durchgeführt (sicher die Kinder nicht ausgeschlossen), Hexen öffentlich verbrannt.
"Hate speeches": Was wird genau darunter verstanden? Die Predigten der Fundamentalisten durch die Jahrhunderte hindurch waren davon wohl nicht weit entfernt, es gibt heute "Hasspredigten" in Versammlungslokalen verschiedenster Provenienz, Kinder werden von klein auf verhetzt, ohne Web 2.0.
Mordaufrufe: In den USA wurden schon vor Jahren Abbreibungskliniken am Funktionieren gehindert und Ärzte erschossen. In Italien zahlten und zahlen
höhere Justizbeamte ihren Kampf gegen die Mafia immer wieder mit dem Tod. Leibacher in Zug holte seine Inspiration kaum aus dem Web 2.0 – oder täusche ich mich da?
Also, der Mensch ist, was er ist, genial und gefährlich zugleich. Mit allen Abstufungen dazwischen. Das Web 2.0 ist eine neue Möglichkeit, mit der sich all die guten und schlechten Eigenschaften verwirklichen können! Das allerdings gilt es aufmerksam zu beachten und in Rechnung zu stellen als neue gesellschaftliche Gegebenheit. Unter anderem deshalb bin ich auch gegen eine Wahl des Bundesrates durch das "Volk"!
Judith Stamm, Luzern
"Weit und breit kein Wendepunkt"
Mit Aurel Schmidts Aussagen bin ich ganz einverstanden. Nur im letzten Nebensatz "… an was für einem Wendepunkt wir angekommen sind" sehe ich zwei Dinge andres. Die kontinuierliche Entwicklung unserer technologischen Gesellschaft hat uns längst am point of no return vorbeigespült. Und die Entwicklung geht weiter. Wirklich angekommen sind wir meines Erachtens nicht. Wir treiben weiter. Und einen Wendepunkt mache ich weit und breit keinen aus. Trotzdem stehe ich für einen Erhalt bestimmter Werte ein.
Peter Berlepsch, Basel