Wieviel Religion braucht der Mensch?
Als freidenkender Mensch müsste es mir egal sein, was der Papst und die Pius-Brüder verkünden. Aber es verhält sich nicht so. Denn was sie sagen, beeinflusst die Öffentlichkeit insgesamt mehr, als es erwünscht ist. Die Diskussion der Kreationisten über die Evolution im Zeichen von Darwins 200. Geburtstag zeigt an einem kleinen Beispiel auf, wie gross der religiöse Einfluss in der Öffentlichkeit ist.
Die verwalteten Religionen sind weniger friedlich beziehungsweise tolerant, als sie scheinen. Papst Ratzinger hat vor einiger Zeit verkündet, dass die katholische Kirche wegen der "apostolischen Sukzession" die einzige wahre christliche Religion sei. Der Pius-Bruder Schmidberger hat in das gleiche Horn gestossen: Es kann für andere Religionen keine "Erlösung" geben, weil sie nicht an Jesus Christus glauben. Sie werden im besten Fall "toleriert", selbst die reformierte. Von den Freidenkern nicht zu reden. Alle Religionen sind einzigartig und allen anderen überlegen.
Religionen wenden sich an auserwählte Völker. Verblendung ist das Ergebnis. Die Einheit der Gemeinschaft ist das erstrebte Ziel. Erkauft wird es durch unbedingten Gehorsam, Unterwerfung und durch Denkverbote. Der französische Philosoph Michel Onfray hat das in seinem Buch "Wir brauchen keinen Gott" ("Traité d‘athéologie") klar und deutlich ausgeführt.
Religionen und die Kirchen, die sie verwalten, legitimieren sich selbst und räumen jeden Widerspruch gegen sie aus dem Weg, ein wenig wie die Psychoanalyse, die aus der Ablehnung gegen sie ihre notwendige Funktion ableitet.
Dass die Entscheidungen der Religionsführer "unfehlbar" sein und widerspruchslos gelten sollen – dagegen empört sich das Denken. Der Autoritarismus der Religionen ist ihre implizite Gefahr. Aber nur Kritik und Auseinandersetzung können jede Form von totalitärer Anschauung, im speziellen Fall von Theokratie, verhindern. Dies umso mehr, als Religionen menschliche Erfindungen beziehungsweise nach Ludwig Feuerbach eine Art Wunschdenken sind. Sie beruhen auf Offenbarungen, die ausser für die eigene Anhängerschaft nicht nachvollziehbar sind und also nicht gültig sein können, und auf Texten, deren Quellen und Überlieferungen ein historisches Problem darstellen. Gott ist eine menschliche Behauptung.
Mehr Beachtung sollten die Versuche verdienen, eine säkulare Ethik, eine Ethokratie, zu begründen, wie sie von Religionskritikern wie Richard Dawkins, Christopher Hitchens, Michel Onfray, Michael Schmidt-Salomon, dem Physiker und Kosmologen Steven Weinberg und anderen entworfen wurden, die von einsichtigen und kommunizierbaren Argumenten ausgehen und das Diesseits in den Mittelpunkt stellen, natürlich ein freudevolles und erfülltes. Die Frage ist nicht, was wir wissen, sondern was wir wissen können. Viele sind überzeugt, dass es einen Gott gibt. Viele andere lassen die Frage offen. Das ist seriöser.
Wir leiden nicht an zu wenig Religion, sondern im Gegenteil an einem Übermass. Was wir dringend brauchen, ist eine von republikanischem Geist erfüllte Gesellschaftsordnung mit aufgeklärt, das heisst selbständig und kritisch denkenden Menschen. Die Religionen sind selten demokratische Musterinstitutionen. Mehr religiöse Zurückhaltung in der Öffentlichkeit würde uns weiterbringen.
20. Februar 2009
"Was ist unter 'Gott' zu verstehen?"
Die Ausführungen von Aurel Schmidt zu den Religionen sind zutreffend. Zum Streit zwischen den Evolutionisten und den Kreationisten gestatte ich mir, Folgendes zu ergänzen:
1. Der Streit zwischen Evolutionisten und Kreationisten entzündet sich regelmässig an der Deutung der biologischen Evolution. Für Gottesvorstellungen aber ist nicht die biologische, sondern die kosmische Evolution von wesentlich grösserer Bedeutung. Dies erhellt sich unter anderem aufgrund der Tatsache, dass die biologische Evolution auf der kosmischen Evolution beruht und dem Umstand, dass unsere Erde aufgrund der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse der kosmischen Evolution bedeutungslos ist.
2. Regelmässig ist bei den Diskussionen zwischen Evolutionisten und Kreationisten zu wenig klar, welches die erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Diskussion sind. Vor einer derartigen Diskussion ist deshalb offenzulegen, auf welchen erkenntnistheoretischen Grundlagen argumentiert wird.
3. In diesen Diskussionen ist regelmässig unklar, was die Diskussionsteilnehmer unter "Gott" verstehen. Handelt es sich um eine abstrakte Vorstellung eines höchsten Wesens oder einer ersten Erscheinung oder sprechen die Diskussionsteilnehmer von einem jüdischen, christlichen, islamischen, hinduistischen oder einem anderen Gottesbild. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass eine bestimmte Gottesvorstellung wiederum die Frage aufwirft, wer denn diesen Gott erschaffen hat.
Luc Saner, Basler Gesellschaft Au Bon Sens, Basel
"Besteht da eine Korrelation?"
Arrondierend zu Aurel Schmidts feinem Beitrag sollte vermerkt werden, dass sowohl das linke bis extrem-linke (SP, Basta, Gewerkschaften und Grüne) als auch das extrem-rechte (Auns, Lega, SD, SVP) politische Spektrum auf unterstellter "Unfehlbarkeit" ihres ohne Ausnahme exemplarisch zusammenhangslosen Angebots gründen.
Ob eine Korrelation zwischen der konstanten Abnahme zahlender Mitglieder von Religionsgemeinschaften und der erstaunlich rapiden Zunahme des (links offenbar exorbitant teuer) bezahlten Mitgliedschaft in den genannten politischen Organisationen besteht?
Patric C. Friedlin, Basel
"Wir leiden an zuviel leerem Platz in Zeitungen"
Leiden wir nicht eigentlich an zu viel Publizität für jeden Unsinn? Die Kreationisten dürfen doch denken, was sie wollen – erst Presse und Medien machen aus ihrer realitätsfremden Meinung ein Thema. Und wenn der Herr Ratzinger und sein Pius-Bruder daran glauben, dass ihre Religion die allein selig machende sei – wohlan! Wen interessiert denn das? Der Vatikan hat eigene Medien – es reichte doch, wenn diese Leute nur dort ihren Auftritt inszenieren.
Mit anderen Worten: Wir leiden nicht an zu wenig oder zuviel Religion, sondern offenbar an zuviel leerem Platz in Zeitungen und Sendezeiten von "Nachrichten". Religion ist ein durchaus interessantes Thema, aber "selbständig und kritisch denkenden Menschen" haben halt nicht viel so herrlich Provozierendes zu berichten, dass die News-Branche es verkaufen könnte. In diesem Sinne ist wohl wahr, dass "mehr religiöse Zurückhaltung in der Öffentlichkeit" uns weiterbringen würde – wenn sie nur auch so gut zu "verkaufen" wäre wie die exotischen und provozierenden Ansichten.
Peter Waldner, Basel