Thilo Sarrazin und die Informationsdefizite
Was vor vierzig Jahren in der Schweiz Überfremdung genannt wurde, ist durch Thilo Sarrazin in Deutschland wieder aktuell geworden. Man kann die Verhältnisse in Deutschland (und anderswo) so sehen wie er und sich irren. Man kann sie auch anders sehen als er, aber sich genauso irren. Erstaunlich ist die Zustimmung, die er gefunden hat, und also muss er etwas ausgesprochen haben, das viele Menschen bewegt.
Sogar in der NZZ sind Beiträge, die Verständnis für Sarrazin aufbringen, erschienen wie etwa vom Biochemiker Gottfried Schatz, abwägend, aber trotzdem deutlich. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann verteidigt Sarrazin. Die Berliner Jugendanwältin Kirsten Heisig ist in ihrem Buch "Das Ende der Geduld" auf die Verhältnisse, die gemeint sind, eingegangen. Die SPD fürchtet um ihre Wählerschaft. Auch in Holland sind vergleichbare Entwicklungen zu beobachten. Dabei war Holland einmal ein Hort der Freiheit, wo die verbotenen Bücher Europas gedruckt wurden.
Die medialen Reaktionen auf Sarrazin bestanden einerseits darin, seine Ansichten in Abrede zu stellen und mit dem Rassismus-Vorwurf abzustellen, andererseits wurde versucht, die Sache zu beschwichtigen. Nur kein Aufsehen erregen. Das Konfliktpotenzial musste unbedingt unter Verschluss gehalten und das Harmoniebedürfnis erfüllt werden.
Bei jeder Gelegenheit berufen sich die Medien sonst gern auf ihren Informationsauftrag. Was sie aber meistens tun, hat Noam Chomsky treffend mit dem Begriff "manufacturing consent" umschrieben: Fabrikation von Konsens.
Zu lange wurden Probleme, die viele Menschen beschäftigen, zum Beispiel die demographische Entwicklung, unberücksichtigt gelassen. Die Medien haben sie übergangen beziehungsweise sich mit anderen Problemen befasst wie zum Beispiel in der Schweiz mit der Rettung maroder und schlecht wirtschaftender Banken und Unternehmen, mit dem lächerlichen Zirkus der Bundesratswahlen, mit dem sogenannten Steuerwettbewerb der Kantone, der die eminente Idee des Föderalismus zur Parodie macht.
Die Aufzählung kann beliebig fortgesetzt werden. Israel vertreibt die Palästinenser aus ihren Gebieten und besetzt völkerrechtswidrig deren Land, aber bezeichnet die Palästinenser, die sich wehren, als Terroristen. Zugleich ist das Recht Israels auf einen eigenen Staat unbestritten, während das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat ihrerseits "verhandelt" werden muss. Wer nur etwas bohrt, wird unter der medialen Erscheinung der Welt eine ganz anders aussehende entdecken.
"Arte" setzt eine Fernsehsendung über Einwanderer in den französischen Städten ab: zu heiss! In Basel behindert eine Beamtin der Integrationsabteilung eine Fernsehreporterin, die eine islamische Demonstration filmt, bei ihrer Arbeit – ein unglaublicher Fall von Einflussnahme der Behörden.
Entweder wird Information als Propaganda und Public Relation betrieben und missbraucht, oder die korporativen beziehungsweise Mainstream-Medien orientieren sich an einer politischen Korrektheit, die zu Verfälschung und Zensur führt – "weil nicht sein kann, was nicht sein darf" (Christian Morgenstern). Am ärgsten ist es zu sehen, wie der konforme, sich selbst affirmierende Diskurs bedient wird.
Woran es der Informationsvermittlung mangelt, ist die Auseinandersetzung mit ungewöhnlichen und abweichenden Ideen. Der Mensch hat zwei Beine, sonst humpelt er, hat Helmut Hubacher kürzlich geschrieben. Anders hat es der amerikanische Rechtsphilosoph Cass Sunstein in seinen Büchern, unter anderem "Why Societies Need Dissent", ausgedrückt: Durch den Wettbewerb divergierender Auffassungen werden bessere Ergebnisse erzielt als durch Ausgleich und manufakturierten Konsens.
Wer sich die aktuelle Lage vergegenwärtigt, kann über den Aufmerksamkeitsschwund der Medien kaum erstaunt sein.
13. September 2010
"Hätten die Politiker hingehört, ..."
Ich kenne das Buch von Herrn Sarrazin nicht, habe aber das Buch der Frau Kirsten Heisig gelesen, die angeblich durch Suizid aus dem Leben schied. Frau Heisig war durch ihre Arbeit als Jugendrichterin in Berlin unmittelbar mit den betreffenden Problemen konfrontiert. Wenn sich die Politiker auch mit diesem Buch auseinandergesetzt hätten, wären vermutlich Herrn Sarrazin einige Angriffe erspart geblieben!
Walter Gerber, Ettingen