Essen als Akt der Selbstbestimmung
Die Aufmerksamkeit, die das Buch "Tiere essen" von Jonathan Safran Foer gegenwärtig findet, zeigt an, dass es einen Nerv der Zeit getroffen hat.
Was tut der Mensch den Tieren an, wenn er sie schlachtet und verzehrt? Arthur Schopenhauer hat das Schicksal des Eichhörnchens beschrieben, das sich mit vollem Bewusstsein in den weit offenen Rachen der Schlange hineinstürzt. Die halbe Tierwelt frisst die andere Hälfte. Die göttliche Schöpfung ist offenbar nicht die beste aller Welten, als die sie beschrieben wird.
Warum sollte nicht auch der Mensch an dem grossen Kill beteiligt sein? Entweder ist er ein Teil der Natur und verhält sich in Übereinstimmung mit ihr – oder er ist es nicht. Dann wackelt die grüne Theorie von der Natur des Menschen und hält nicht, was sie verspricht.
Gegen den Fleischkonsum sprechen trotzdem drei Gründe. Ein erster betrifft den Lebensstil. Nicht das Töten von Tieren des Fleisches wegen ist grausam und stossend, viel mehr ist es die Art, wie mit Tieren unter den Bedingungen der Tierhaltung und -mästung umgegangen wird. Sie ist oft Ekel erregend. Wer will dieses Fleisch essen? Erwin Wagenhofer hat in seinem Film "We feed the world" dazu ein paar ergänzende Worte gesagt.
Es gibt also allein schon deshalb gute Gründe, auf den Verzehr von Fleisch zu verzichten. Sowieso hat die Gammelfleisch-Diskussion einem schon lange den Appetit gründlich verdorben.
Wie wir essen, so denken wir und fassen wir unser Leben auf. Essen ist eine Frage der Lebenskunst.
Essen sollte Freude machen, es ist kein Akt, um Unzufriedenheit zu kompensieren. Deshalb tun es auch ein Butterbrot und ein paar Radieschen.
Der zweite Grund ist medizinischer Art. Jeder Onkologe wird seinen Patienten dringend raten, auf tierische Produkte so weit wie möglich zu verzichten. Der Neurowissenschafter und Psychiater David Servan-Schreiber hat in seinem "Antikrebs-Buch" Krebspatienten anregende Empfehlungen für ihre Ernährung gegeben, die auch für Gesunde verlockend sind.
Es geht hier in einem erweiterten Sinn darum, den Zusammenhang von richtiger Ernährung und Gesundheit zu verstehen. Richtig, gut und gesund sind in diesem Sinn identische Begriffe.
Der dritte Grund betrifft die Ökonomie. Lebensmittel haben heute eine ökonomische Parallel-Bedeutung. Jeden Tag werden Hunderte neuer Produkte auf den Markt geworfen – meistens processed food, verarbeitete Nahrungsmittel, nichts Natürliches wie Obst oder Gemüse zur passenden Jahreszeit. Essen heisst infolgedessen, etwas Gutes zu tun für die Shareholder von Unilever, Nestlé, Kraft Foods, Cadbury Schweppes, Danone, Kellogs, United Biscuits, Hillsdown, San W. Berisdorf und so weiter.
Immer mehr Nahrungsmittel sind reine industrielle Produkte. Konsumenten, Konsumentinnen, vergesst das nie! Siehe dazu auch das Buch "Die Essensfälscher" des früheren Greenpeace-Geschäftsführers Thilo Bode, der nicht davor zurückschreckt, vom Tatbestand der "Körperverletzung" durch bestimmte Lebensmittel zu sprechen.
Kommt hinzu, dass wir alle ohnehin viel zu viel essen. Man muss nur die Einkaufswagen sehen, die aus den Supermärkten geschoben werden.
Was und wie wir essen, ist infolgedessen der erste Schritt auf dem Weg zur Selbstherstellung und Selbstbestimmung.
25. Oktober 2010