"Linker Quatsch" und "rassistische Brandstifter"
Wir leben in einer Zeit mit ausgeprägten konservativen beziehungsweise restaurativen Zügen. Nur haben wir es leider mit keinem besonders intelligenten Konservativismus zu tun. Mit dem Klammern an Werte, die in der Vergangenheit gegolten haben, ist kein brauchbarer Beitrag an die Zukunft zu leisten. Ein valables Gesellschaftsprojekt, ein "projet de société", wie Frankreich es vergeblich von Sarkozy erwartet, muss auch hier vermisst werden.
Womit wir es tatsächlich zu tun haben, ist eine neoliberale Militarisierung, wenn ich höre, wie Bundespräsidentin Doris Leuthard den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül zum Wirtschaftswachstum der Türkei von 8,5 Prozent beglückwünscht. Sollte dies der gesellschaftliche und geistige Horizont sein, wäre das Schlimmste bereits eingetreten. Das sagt man so, doch dann stehen die Überraschungen meistens erst noch bevor.
Dass die Steuergerechtigkeits-Initiative abgelehnt wurde, ist kein demokratisches Glanzresultat. Aber sagen wir mal so: Über das Thema müsste man kontrovers reden können. Das gilt auch für die sogenannte Ausschaffungs-Initiative. Unhaltbar ist dagegen die Art, wie heute die interessierten Kreise Katastrophen-Szenarien entwerfen und Millionen in die Abstimmungskämpfe pumpen, um Ergebnisse zu erzielen, die dann als demokratische Vernunft ausgegeben werden.
Die Konfrontation zwischen bürgerlichen und linken Politik-Agenten ist eine Auseinandersetzung in Schwarzweiss-Malerei. Wenn die Rechte zum Beispiel von "absolutem linken Quatsch" oder "linkem Meinungsterror" redet, wehrt sich die Linke gegen "rassistische Brandstifter". Das ist die gleiche Sprache, die immer lauter, gereizter, giftiger wird.
Dabei ist nicht ausgemacht, ob wir es hier nicht mit einem periodischen Wechsel der politischen Auffassungen zu tun haben. Der Konflikt wird, frei nach Sigmund Freud, zwischen den Kräften der Entwicklung und den Bedürfnissen nach Stabilität ausgetragen. Auf einem grösseren Plan unterliegt alles den Prinzip von Zerstörung und Erneuerung, von Werden, Vergehen und neuem Werden (in der Natur, metaphysisch seit den griechischen Atomisten). Der deutsche Physiker Martin Bojowald hat die Idee vertreten, das heute bekannte Universum habe nicht mit dem Urknall begonnen, sondern bilde eine Episode in einem zyklischen, sich ständig wiederholenden Universum. Die Geschichte wird also weitergehen, auch auf Erden in der Politik.
Weder die grossen, noch die kleinen zyklischen Bewegungen pendeln sich ein – sie schwanken mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Ist der kritische Punkt erreicht, kippen die Kräfte um. Wann der Fall eintritt, bleibt offen.
Im Grossen sind die Schwankungen nicht einsehbar, sie laufen in zu grossen Zeiträumen ab. Im Kleinen erleben wir die Abfolge der Gegensätze (eigentlich der Konflikte und Krisen) als heraklitische (also kriegerische) Auseinandersetzung.
Trotzdem bleibt unter diesen Umständen die Möglichkeit zu urteilen erhalten. Intelligent ist, wer sich nicht auf die Seite der Mehrheit oder der Routine stellt, sondern sich eine unabhängige, distanzierte Haltung bewahrt. Auch wenn er den Rechten zu links und den Linken zu rechts erscheint.
Eine soziale Verpflichtung ist deswegen nicht ausgeschlossen. Es ist nicht verwerflich, sich auf die Seite der Benachteiligten und Ausgenützten zu stellen. Der gegenwärtige triumphale Neoliberalismus ist keine Spielart des Konservativismus und schon gar keine freiheitliche Praxis. Am ehesten ist er ein darwinistischer Selbsterhaltungstrieb und Egoismus der Geldhaber.
5. Dezember 2010
"Wer zuviel denkt, macht sich verdächtig"
Aurel Schmidt sagt es nicht mit diesen Worten, aber die Quintessenz seiner Überlegungen ist klar: Wer differenziert denken und urteilen will, muss den Mut haben, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Die Stimme der Intelligenz hat es gegen Demagogie und Polarisierung schon immer schwer gehabt, weil sie zur Lösung von politischen und gesellschaftlichen Problemen keine simplizistischen Rezepte anbietet. Umso wichtiger ist es, den ideologischen Mauerbauern immer wieder vor Augen zu halten, wie kurz ihre Argumente greifen. Und damit zu riskieren, dass mann/frau als "Intellektuelle" beschimpft wird. In gewissen Kreisen macht sich verdächtig, wer "zuviel" denkt – auch in unserer angeblich so urdemokratischen Schweiz.
Esther Murbach, Basel
"Wohin sind Intelligenz und Bildung verschwunden?"
Einmal mehr eine intelligente Analyse! Wenn ich etwa an die NZZ denke, das Blatt der sogenannten Elite, wo der Inland-Chef im Kommentar zur Ablehnung der Steuerinitiative nichts Gescheiteres zu sagen wusste, als dass die "Vernunft" über "Missgunst und Neid" gesiegt habe, und wenn ich in der neusten Werbekampagne der FDP sehe, dass in den Augen der FDP die Rechten einfach die Polemiker und die Linken einfach die Missgünstigen sind, dann frage ich mich schon, wo all die Intelligenz und Bildung hin verschwunden ist, die an den Universitäten geschaffen wurde und wird. "Analyse" der FDP (sofern das Wort Analyse hier noch gebraucht werden darf): Wer noch einen Sinn für Gerechtigkeit, für soziale Verantwortung und für Solidarität hat, ist einfach "missgünstig". Da lobe ich mir Aurel Schmidt und dessen Gedankengänge, auch wenn sie "nur" im Internet zu lesen sind ...
Christian Müller, Molinazzo di Monteggio