Werte, die verdienen, verteidigt zu werden
Es gibt Menschen, die einen roten Kopf bekommen, wenn von Aufklärung die Rede ist. Sie sehen darin die Bezeichnung für einen europäischen Fundamentalismus. Dabei hat die Aufklärung eine Entwicklung eingeleitet, die den Menschen eine hohes Mass an persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung gebracht, auch von gesellschaftlicher Teilnahme und Mitverantwortung, also etwas, das alle autoritären Regimes zu verhindern versuchen. Ein besseres Programm ist es dagegen, soviele Lebensentwürfe wie möglich zuzulassen, unter der Voraussetzung, dass die Verhältnisse von den betroffenen Menschen untereinander als freie Assoziierte ausgehandelt werden.
Gemeint ist damit, dass über alles verhandelt werden kann: über die Wahrheit, Gott, den Markt. Kritische und skeptische Fragen helfen, unter verschiedenen Antworten die beste herauszufinden. Diese Einstellung hat die europäische Geistesgeschichte geprägt. Die intellektuelle Neugier beginnt mit den sokratischen Dialogen.
Fehlentwicklungen haben sich nicht immer ausschliessen lassen, aber das lag eher an einem aufklärerischen Mangel als an der Aufklärung selbst. Aufklärung bedingt eine permanente Selbstreflexion. Fundamentalismen sind dazu unfähig.
Wenn die europäischen Werte, die auf der Aufklärung beruhen, verteidigt werden sollen, geht es nicht um ein Schlagwort, sondern um die konsequente Arbeit an einer Idee (siehe dazu www.euopäischewerte.info). Würden wir diese Werte aufgeben, hiesse dies, unsere Geschichte, unsere Prinzipien, unsere Eigenart zu verleugnen und preiszugeben.
Was diese Werte heute bedroht, ist weniger das multikulturelle Durcheinander und ein fürchterlicher Obskurantismus als eine sträfliche Gleichgültigkeit und intellektuelle Unbedarftheit. Die Realpolitik hat die Köpfe leergefegt. Wir haben alles, aber können auch alles verlieren, den letzten Rest Modernität.
Das Leben ereignet sich weder in Banken, noch an der Börse. Notabene auch nicht in Bars oder Discos.
Wir brauchen nicht noch mehr Umsatz, Wachstum, Eroberung neuer Märkte, Gewinne. Mit strukturierten Produkten lässt sich kein sinnvolles autonomes Dasein gestalten. Der politischen Klasse sind, nachdem sie ihren Wortschatz auf "sparen" und "Steuern senken" reduziert hat, die letzten Ideen ausgegangen. Wirtschaft und Finanzindustrie haben die Welt in ihrem Sinn dereguliert, das heisst in einen desorientierten Zustand versetzt, und sind jetzt daran, das Leben und den Alltag der Menschen bis ins Kleinste zu re-regulieren.
Der Börsenbericht ist das Credo vor der abendlich zelebrierten Messe der "Tagesschau" (die etwas furchtbar Erzieherisches hat; aber das ist ein anderes Thema). Man begreift sofort, was in dieser Gesellschaft zählt. Wenn andererseits zehnjährige Mädchen träumen, Topmodel zu werden oder am nächsten Euro Song Contest teilzunehmen, ist auch etwas aus dem Ruder gelaufen.
Von Einwanderern wird erwartet, dass sie Deutsch lernen, um sich besser in dieser Gesellschaft zu orientieren. Warum wird das nicht auch von den Schweizern verlangt? Die Rekrutenpüfungen zeigen regelmässig, wie dringend dies wäre. Und wenn Muslime sich hier integrieren und die Werte dieser Gesellschaft respektieren sollen, dann müsste man auch und vor allem von den eigenen Landsleuten ein verstärktes zivilgesellschaftliches und republikanisches Handeln verlangen.
Was könne das Ziel davon sein? Vielleicht eine Verbindung von Kritik und Produktivität, von gewollter Gestaltung einer nicht-kommerzialisierbaren, aber kreativen, fröhlichen Zukunft.
4. Oktober 2010
"Substanzielle Inhalte, fundierte Denkanstösse"
Danke für diesen durchdachten und sorgfältig formulierten Beitrag! Habe – als relativ neuer Newsletter-"Abonnent" von OnlineReports.ch – bei dieser Gelegenheit auch gleich ein paar ältere Kolumnen von Aurel Schmidt angeschaut. Wirklich lesens- und überdenkenswert! Es ist erfreulich zu sehen, dass es Internet-Portale gibt, auf denen nicht nur News erscheinen, bei denen es – vermeintlich – um Schnelligkeit geht, sondern die auch für substanzielle Inhalte, fundierte Denkanstösse und scharfsinnige Analysen Platz haben.
Als Nicht-Basler habe ich OnlineReports.ch bisher – aus Gründen der vermuteten regionalen Ausrichtung und Beschränkung – nicht so gut beachtet. Aurel Schmidt wird das nun ändern.
Christian Müller, ehemaliger CEO der Vogt-Schild Medien Gruppe, Molinazzo di Monteggio