Jedes Thema überlagert ein anderes
Das Thema für eine Kolumne zu wählen, ist einfach. Schwierig ist nur, dass jedes ein anderes überlagert. Auf den französischen Bahnhöfen liest man manchmal die Warnung: "Un train peut en cacher un autre." Das ist eine gute Umschreibung für das, was ich meine.
Wenn ich über die Finanzkrise schreibe, übergehe ich zum Beispiel die Umtriebe der Mafia, um ein Beispiel zu geben. Was müsste mit Priorität behandelt werden? Am Ende eines Beitrags habe ich oft den Eindruck, dass ich auf einen Nebenschauplatz geraten bin. Oder wie es im Zen-Buddhismus heisst: Wenn alles auf das Eine zurückzuführen ist, worauf ist dann das Eine zurückzuführen? Was ist der Kern des Gemeinten, der Ausgangspunkt, das Eigentliche und Essentielle? Das Ideal, alles in einem Satz auszudrücken, was es zu sagen gibt, ist ein beau idéal und unerreichbar.
Ein Beispiel: die Euro-Krise. Das wäre ein einfaches Problem. In Wirklichkeit haben wir es mit einer Europa- und einer noch viel tiefer sitzenden allgemeinen Orientierungskrise zu tun. Europa ist ein wirtschaftliches Projekt und kein kulturelles.
Oder ein anderes Beispiel: die Börse. Die Kursschwankungen sind ein Epiphänomen. Mehr käme es darauf an zu verstehen, dass die Vorgänge an der Börse ein Algorithmus sind, ein automatischer Prozess, und dass die Trader die Kaninchen vor der Schlange sind, die das Leben vergiftet. Die längst notwendige Finanzmarkt-Regulierung fängt mit dem Verbot von Online-Lottospielen an. Das ist einfacher. Wenigstens das, der Rest später. Wie kann man darüber schreiben? Pessimistisch wie der peruanische Dichter César Vallejo in einem seiner Gedichte? Oder ironisch und abgeklärt wie Erich Kästner?
Die Probleme und Ungereimtheiten nehmen jeden Tag zu. Der Satz "Wir müssen sparen" drückt die abgrundtiefe Phantasielosigkeit der Politik aus. Der Gürtel ist zum finanzpolitischen Symbol avanciert. Die in die Abstimmungskampagne für die Sanierung von Deponien gesteckten Summen lassen das Schlimmste befürchten. Von Zeit zu Zeit führt die Schweiz das Demokratiespiel in aller Ungeniertheit auf (bezeichnenderweise an der Urne, die an einen Friedhof erinnert). Es grenzt an ein Wunder, dass der Souverän die Senkung des Umwandlungssatzes für die Renten abgelehnt hat.
Aggressoren und Diebe stellen sich als Opfer dar, die sich gegen die Bedrohten und Bestohlenen wehren müssen. Wie ist es möglich, die Verrenkung dieser Argumente glaubwürdig aufzudecken? Und warum sollte es unzulässig sein, über ein Burka-Verbot zu diskutieren? Wer sich an die Gesetze hält, riskiert heute, zum Rassisten zu werden. Naivität ist ein schlechter Ratgeber. Hütet euch vor den Rechtgläubigen. Weltoffenheit ja, aber sie erfordert ein kritisches Unterscheidungs- und Urteilsvermögen. Wir hätten gehorsame Demokraten zu sein, spottete Friedrich Dürrenmatt. Das ist der Grund, warum wir zu spät wissen werden, was wir nicht gewollt haben.
Ist das alles nicht verrückt? "Il ne me reste que de devenir un méchant fou", sagte der Dichter Arthur Rimbaud einmal. Manchmal kann ich gut verstehen, was er sagen wollte.
Das nächste Mal schauen wir weiter. Die Probleme werden uns bestimmt nicht davonlaufen.
30. Mai 2010
"Alles ist Kalbsbrät"
Was Aurel Schmidt schreibt, ruft mir den News-Room von Ringier in Erinnerung. Nur ist die Reihenfolge umgekehrt. Die Neuigkeiten, Probleme und Fragen gehen "durch eine Hand", wie die Zutaten durch eine Wurstmaschine. Aber das Produkt wird unter verschiedenen Formen vermarktet. Um im Bild zu bleiben: Alles ist Kalbsbrät. Aber es gibt Bratwürste, Cippolata, Brätkügeli, Füllung daraus.
Was ist der gemeinsame Nenner zu all dem, was Aurel Schmidt beschreibt. Es ist "Chaos". Ob es kreativ oder zerstörerisch ist? Das wissen wir nicht, denn es ist immer beides. Wir werden umgetrieben und mühen uns, wenigstens einigermassen das Gleichgewicht zu behalten in der "Erscheinungen Flucht".
Judith Stamm, Luzern