Woke Speisekarten
Gen Z, so las ich kürzlich, leide laut der Umfrage eines Marktforschungs-Instituts unter Speisekarten-Angst. Generation Z, zwischen 1996 und 2011 geboren, diese 12 bis 27 Jahre alten jungen Menschen haben also Angst vor Speisekarten. Auch Millennials seien betroffen, die etwas Älteren. Dass es Flugangst, Spinnenangst, Angst vor Mäusen und Schlangen gibt, das wusste ich, Höhenangst auch; aber eine Speisekarten-Phobie, das war mir neu.
Allerdings kann sich auch ein Babyboomer wie ich zuweilen vor einer Speisekarte fürchten. Exemplare in schmierigem Plastik erwecken nacktes Grausen. Auch wenn ich darauf von Wurstsalat über Pizza samt Hummus und Döner auch noch "Suuri Lääberli" und Sushi finde, macht mein Magen einen Salto Mortale, und ich bestelle lieber eine Stange Bier. Auch die hat Kalorien und lauert nicht schon ewig halbvergammelt in der Küche auf eine Bestellung.
Die Angst der Gen Z ist aber eine andere. Spezialisten und Expertinnen mutmassen, dass die Gen-Z-Gäste sich davor fürchten, zu knapp bei Kasse zu sein. Das leuchtet nicht ein. Auch wir hatten in der Studienzeit Phasen mit sehr, sehr leerem Portemonnaie. Wenn trotzdem Lust auf ein richtiges Stück Fleisch in einer Beiz aufkam, gab es dieses Restaurant unmittelbar beim Zoll an der Grenze zu St. Louis, in welchem vor allem Fernfahrer verkehrten. Und eine gewisse Studentin mit Freunden. Dort kostete ein riesiges Stück Rindsfilet ungefähr gar nichts. Vermutlich hatte der Wirt einen heimlichen Tunnel ins Elsass hinüber, aber lassen wir das. Jedenfalls schlemmten wir, hatten es lustig, und danach gab es wieder eine Woche lang Spaghetti.
Gen Z kann sich nicht entscheiden, weil sie viel zu oft nicht muss.
Speisekarten-Angst also, und die Finanzen lasse ich nicht gelten, denn Experten hin oder her, Schmalhans hatten auch wir. Was aber könnte der Grund dafür sein, dass sich Gen Z beim Anblick einer Speisekarte überfordert fühlt? Gen Z, das scheint mir die naheliegendste Erklärung, kann sich nicht entscheiden, weil sie viel zu oft nicht muss.
Im bedienten Schuhladen, wenn die Verkäuferin eine Entscheidung möchte, kann man es sich "nochmals überlegen", "später nochmals" vorbeikommen. Es könnte sich ja etwas Besseres finden. Nicht so im Restaurant. Da liegt diese vermaledeite Speisekarte, die Kellnerin wartet, es muss ein Entscheid gefällt werden, ein unverrückbarer, denn hat die Köchin die panierte Aubergine in der Pfanne, gibt es kein Zurück mehr, die wird nicht mehr roh, die kommt, die liegt dann auf dem Teller, den der Kellner bringt. Keine Retoure, wo es doch, vielleicht, etwas Besseres gegeben hätte.
Wir alle, nicht nur die Gen Z, leiden unter einer unendlichen Verfügbarkeit an Angeboten aller Art, die wir unverbindlich annehmen und wieder wegstellen können. Versandriese Z schickt Gen Z alles gratis zur Begutachtung und nimmt es ebenso gratis wieder zurück, und andere tun es ihm gleich. Kein Entscheid ist mehr unwiderruflich, so will es scheinen, Unverbindlichkeit das Stichwort dieser Zeit. Nicht nur Waren.
Es wird herausgepickt und weggeworfen, egal ob Waren, Menschen, Friends.
Über Dating-Tools werden auch Menschen in einem ewigen Karussell kontaktiert, entsorgt, Daumen rauf, Daumen runter, wischen, retournieren, unverbindlich bestellen, kontaktieren, versetzen, buchen, annullieren, ghosten. Ein Reigen der Angebote aller Art, es wird herausgepickt und weggeworfen, egal ob Waren, Menschen, Friends. Blockieren nach Belieben. Es werden Tische im Restaurant reserviert und keiner erscheint, und es boomen die Einpersonenhaushalte.
Denn die Babyboomer haben das Verhalten der Gen Z auch angenommen, wischen auch, ghosten auch. Sie haben aber einst gelernt, dass gewisse Entscheide, damals die meisten, nicht so einfach widerrufen werden können. Unsere Eltern kauften zur Hochzeit ein Schlafzimmer, und das hatten sie für den Rest ihres Lebens. Wir hatten Ikea, immerhin. Aber zusammengeschraubt war zusammengeschraubt, zurückgeben lag nicht drin.
Und da sitzen sie nun, die Fünfzehnjährige, der Zwanzigjährige, die Dreissigjährige, vor dieser bedrohlichen Speisekarte, und können sich einfach nicht entscheiden. Haben es nicht gelernt.
29. Januar 2024
"Pizza, Döner oder Spaghetti"
Solange Pizza, Döner oder Spaghetti auf der Karte steht, gibts vermutlich keine Angst. Alles Andere kennen halt einige nicht.
Roberto Lanz, Bottmingen
"Sprachlich opulente Speisekarte"
Wie kommts? Das ist hier die Frage. Mit einer sprachlich opulenten Speisekarte werden in diesem Beitrag Menüs für eine Zukunft offeriert, die kaum wahrhaftig und wirklich eine sein kann. Die Generation Z ist dabei als die allerletzte inszeniert: Ob sie wohl wirklich auch die letzte sein wird?
Ueli Keller, Allschwil