Der K(r)ampf um die Nische
Stockwerkeigentum ist faszinierend. Bislang war ich bloss Mieterin oder Hausbesitzerin, aber Stockwerkeigentum, das ist eine ganz andere Liga. Im Mietshaus wohnen alle nahe aufeinander, wir kennen die Probleme: Waschküche nicht geputzt, Haustüre nicht abgeschlossen, der macht zu laut Musik, der Rauch von der zieht es in die Wohnung der andern. Es hagelt Briefe an die Verwaltung und Briefe von der Verwaltung, und es droht der Hinz der Kunz.
Bei den Häuschen ist dann zwar mehr Distanz und Luft, aber der Baum hängt über den Zaun und hinterlässt Laub im fremden Garten. Fremdes Laub fällt in den eigenen Garten. Die Katze verkackt den Garten, aber nicht den eigenen. Auch Lärm soll es geben, die Polizei wird aufgeboten, ist ja schon nach 22 Uhr, und irgendwann der Friedensrichter, die Zivilklage, man schaukelt sich hoch, steigert sich in etwas hinein.
Stockwerkeigentum also. Zunächst die gleichen Probleme wie bei der Wohnungsmiete. Bloss, dass da kein übergeordneter Vermieter existiert, der durchgreift. Denn das Haus gehört allen, die Verwaltung wird von allen bezahlt, und die Regeln werden gemeinsam an der Stockwerkeigentümer-Versammlung festgelegt.
Nirgendwo entlarvt sich der Mensch mehr, wird mehr zum Tier, testet mehr aus, wie weit er gehen kann.
Es gibt Areale, die nur der Eigentümer des Areals nutzen darf, die Wohnungen und die Garagen etwa. Und es gibt Areale, die alle nutzen dürfen. Zu denen gibt es alle möglichen Vorschriften. Etwa, wie und wo Kinderwagen hingestellt oder Firmenschilder angebracht werden dürfen.
Und jetzt wird es spannend, denn es fehlt die Chefin, der Boss. Da ist kein Hauseigentümer, der durchgreift oder mittels Verwaltung durchgreifen lässt, wenn die Waschküche nicht geputzt oder die Haustüre offen gelassen wird. Niemand da, wenn sich einer nicht an die Regeln hält. Auch die Distanz ist nicht da, die dem Hauseigentümer etwas Luft lässt. Nirgendwo entlarvt sich der Mensch mehr, wird mehr zum Tier, testet mehr aus, wie weit er gehen kann.
Für die Zuschauerin, die das Spiel nicht mitspielt, ist dies unterhaltsam. Ich halte mich an die Regeln, warum auch nicht, wir haben sie demokratisch festgelegt, wenn wir sie ändern wollen, können wir das vorbringen, und dann wird abgestimmt. Ende der Diskussion.
Es fing schleichend an. Der eine stellte mal Möbel, die alle nutzen können, so jedenfalls die Erklärung, in eine Nische im Korridor. Andere stellten die Schuhe vor die Türe, wie im Hotel, was von vielen nachgeahmt wurde. Da schritt dann jemand ein, schliesslich konnte so gar nicht mehr aufgewischt werden.
Manche testen stets aus, wie weit sie gehen können, egal, wie viele Regeln es gibt.
Ein Haushalt montierte daraufhin einen Schuhschrank an die Aussenwand der Wohnung, nicht zulässig, eigentlich. Der mit der Nische stellte einen Schrank in den nicht privaten Teil des Kellers. Nach und nach kamen Wäscheständer und Koffer in die Nische, ein Besen. Ein Klapptisch in den Kellerdurchgang, Regale. Ein anderer fand, was der kann, kann ich auch, und ehe ich mich versah, stand im Kellerdurchgang ein Kühlschrank.
Das Geraune der Regelkonformen, schon seit einiger Zeit im Gange, wurde intensiver. Schliesslich kann der Hauswart dort, wo dieses Gerümpel steht, nicht mehr ordentlich putzen. Ich höre den einen zu, die sagen, das gehe doch nicht, wir hätten doch Regeln, und wenn das jeder machen würde. Und ich höre die andern, die, die die Grenzen überschreiten, und die sehen es nicht so eng, sagen sie. Es brodelt – immer mehr.
Die spannende Frage ist die, wie lange es noch dauert, bis irgendwem der Kragen platzt und die frei zu haltenden Areale geräumt und gereinigt werden. Es wird immer enger, sie fangen bereits an, sich gegenseitig die noch möglichen illegalen Nischen für das Depot ihres Krempels abzujagen. Ein Wettkampf.
Fazit: Vergesst Vernunft, Einsicht, Fairness. Vergesst die Abschaffung des Kapitalismus, des Militärs, der Polizei. Manche testen stets aus, wie weit sie gehen können, egal, wie viele Regeln es gibt und wie demokratisch sie erstellt wurden. Im schlimmsten Fall, bis es Krieg gibt.
6. November 2023
"War oft der Friedensrichter"
Ich habe während 13 Jahren eine Liegenschaft mit Eigentumswohnungen verwaltet. Ich war oft der Friedensrichter, denn die Eigentümer haben sich oft an mich gewandt bei Unstimmigkeiten. Mit etwas Fingerspitzengefühl und Gesprächen hat sich alles lösen lassen, und dauernder Ärger gab es nie. Seit vier Monaten habe ich mich nun von der Verwaltung entbunden.
Jörg Wilhelm, Basel