Ein kleiner Chip – und ich wäre gerettet
KI, künstliche Intelligenz, Hackerangriffe, Bildbearbeitung: Informatik ist Tagesthema Nummer eins und ich verfolge dies mit grösstem Interesse. Ich warte nämlich verzweifelt auf die implantierbare Gesichtserkennungs-Software. Es wäre traumhaft, könnte ich all die Leute, die mich so nett begrüssen, rasch scannen, und ein inneres Display würde mir "Udo Schmitt" anzeigen. Ein kleiner Chip, und ich wäre gerettet.
Ich bin nicht arrogant, ich mag Menschen. Aber mein Namensgedächtnis ist eine einzige Katastrophe. Und so kriege ich zuweilen bloss ein mattes "Hallo, wie geht es denn so?" heraus, obwohl ich ganz genau weiss, dass das der Mensch ist, den ich am letzten Anlass des Verbandes für frohe Politiker getroffen habe, als dieses Gewitter losging. Bloss, wie hiess er schon wieder? Etwas mit "M", oder?
Den mit dem "Hallo Toni" vor ein paar Jahren hat mir Tino Krattiger fast nicht verziehen.
So kürzlich wieder, als ich im Tessin in der Einstellhalle einen netten Herrn mit Hund traf, der im selben Haus wohnt. Ich kenne ihn ganz genau: Wohnung Nummer 11, Feriengast. Keinen Dunst, wie er heisst, also Flucht nach vorne: "Helfen Sie mir bitte, ich bin die totale Niete in Sachen Namen." Udo heisse er, und wir seien per Du. Ein wirklich, wirklich netter, verständnisvoller Mensch.
Dann die morgendliche Marschtour, hinunter zum See, dem Ufer entlang, Hündeler-Promenade. Ich babble ununterbrochen "Buongiorno" vor mich hin. Bis, halt, der weisse Hund. Es ist der von Nummer 11. "Ja hallooo, auch unterwegs, so früh?" Er: "Udo." Und ich: "Jaja, weiss ich doch". Gar nichts weiss ich.
Ich bin verzweifelt, das ist ja peinlich. Eine Eselsleiter muss her. Sie kommt in der Person von Udo Rauchfleisch, dem er etwas ähnlich sieht. Ich verknüpfe konzentriert Synapsen: weisser Hund, Brissago, Udo Rauchfleisch, Udo. Das muss nun funktionieren, es muss einfach.
Die Zeit zieht ins Land, Udo und Hund fahren wieder in den Norden, ich bin in Basel, wo man mir allfällige Ausfälle eher verzeiht. Gut, den mit dem "Hallo Toni" vor ein paar Jahren hat mir Tino Krattiger fast nicht verziehen. Aber ansonsten hat es jede Menge netter Menschen hier, die unter dem gleichen Leiden leiden. Aufmerksame Veranstalter kleben deshalb gleich am Eingang jedem Gast ein Namensschild auf die Brust. Das reduziert zwar den Blickkontakt, weil sich alle gegenseitig auf die Brust stieren, aber die Peinlichkeiten bleiben aus. Jedenfalls diejenigen der vergessenen Namen, denn der Blick auf den Busen ist auch nicht ohne. Aber lassen wir das.
Da landen sie auf dem Mond, aber einen kleinen Chip mit Gesichtserkennungs-Software kriegen sie nicht hin.
Dann wieder Brissago. Es kommt, wie es kommen muss: Unverhofft steht der weisse Hund mit Herrchen wieder vor mir. Die beiden hatte ich doch glatt vergessen, Nummer 11, Sie wissen schon. Aber ich habe ja meine Eselsleiter. Überglücklich und überlaut begrüsse ich ihn: "Guten Tag Herr Rauchfleisch, schön, dass Sie auch wieder hier sind!". Leicht säuerlich sagt er: "Udo!" Und: "Denk einfach an Udo Jürgens, dann vergisst du es nicht wieder!"
Wir palavern ein bisschen, ich versuche nebenher "weissen Bademantel" mit "weissem Hund" zu assoziieren. Ansonsten das Übliche: Wie wird das Wetter und wie lange ist wer hier? Dann muss er weiter, und ich rufe ihm glücklich hinterher: "Ciao Jürgen, wir sehen uns!"
Ich meine, da landen sie auf dem Mond und umzingeln sie den Mars. Aber ein einfaches, kleines Chipchen mit Gesichtserkennungs-Software, subkutan, mit dem Handy steuerbar, das kriegen sie wieder nicht hin, typisch.
14. August 2023
"Gut, dass es anderen Menschen auch so geht"
Keine Chance, Frau Strahm. Jawohl, die Menschen fliegen auf den Mond, und alle sprechen von KI. Doch wie heisst dieser, jener schon wieder? Und selbst mit einem kleingedruckten Schild auf der Brust kann man ihn/sie nicht beim Namen nennen, denn die Namen sind so klein geschrieben, dass ich es nicht lesen kann. Schade! Nur ein kurzes Lächeln und ein kurzer Small Talk (so nennt man dies heute) und schwups, der Alltag geht weiter. C’est la vie – gut, dass es anderen Menschen auch so geht!
Yvonne Rueff-Bloch, Basel
"Eine (noch) surreale Vorstellung"
Schmunzelnd habe ich die Kolumne gelesen! Eine (noch) surreale Vorstellung, einen Chip mit einer Gesichtserkennungs-Software zu haben.
Marina Fink, Zunzgen