Wo ist das Schinken-Sandwich geblieben?
Eine meiner frühesten, kulinarischen Erinnerungen ist ein Schinken-Sandwich. Es war Ende der Fünfzigerjahre, wir waren im Zug, und der hatte angehalten. Mein Vater lehnte zum Fenster hinaus und fuchtelte wie verrückt einem Verkäufer zu, der mit einem Handkarren dem Zug entlangging und Sandwiches verkaufte. Und so eines erhielt ich. Weiches Weissbrot, mit Butter bestrichen und Schinken belegt, mehr nicht.
Ich war restlos glücklich, geborgen bei meinen Kette rauchenden Eltern, und natürlich rumpelte der Zug, und es herrschte – wegen dem Qualm und dem Kind – Dauerdurchzug. Egal, das Schinken-Sandwich blieb auf ewig in meinem Gedächtnis haften.
Versuchen Sie, heute einmal ein derartiges Sandwich am Bahnhof zu kaufen. Gibt es nicht. Nur noch Mischbrot aus Ascorbinsäure, Acerola-Pulver, Mehlbehandlungsmittel, Zucker, Milchprotein. Darin hat es zwar Schinken, aber auch nach Dünger schmeckenden Salat, wässrige Tomaten und eine weissliche oder rötliche Sauce aus gefärbtem Glutamat. Der Hunger kann damit gestillt werden, aber Appetit kommt nicht auf. Dabei wäre es so einfach: Mehl, Hefe, Milch, Butter, Schinken.
In der Politik ist es genauso. Die SVP war einst die Bauernpartei, die FDP die Partei der Unternehmer, die CVP vertrat die Katholiken aller Lager und die SP die Arbeiter. Dann gab es noch ganz links ein paar Revolutionierende, die die Anarchie und die Abschaffung von allem wollten und an Lenin und Marx glaubten. Kurzum, es war klar, wer zu welcher Partei gehörte.
Die Politik ist ein Jekami geworden, jedes Sandwich hat etwas von allem drin.
Heute wählen die Bauern FDP, sie brauchen schliesslich die Feldarbeitenden aus Rumänien. Die Arbeitnehmer sind bei der SVP, die alle bekämpft, die über die Grenze kommen, und so die Löhne hochhalten hilft. Die SP ist die Partei der Staatsdiener und schafft Staatsstellen ohne Ende. Die CVP wurde zur Mitte und versucht nun auch die nicht katholischen Chefs, Bäuerinnen, Staatsdienerinnen und Arbeiter unter einen Hut zu kriegen. Und grün sind sie alle, mit oder ohne "grün" im Parteinamen. Ganz links haben wir noch immer die, die gegen das Kapital sind und gut davon leben. Dies, immerhin, blieb gleich.
Die Politik ist ein Jekami geworden, jedes Sandwich hat etwas von allem drin, man grast im politischen Feld der anderen Partei, mal ziehen sie diese Maske an, die Politikerinnen, mal jene. Je nachdem, was die Kommunikations- und andere Coaches gerade raten.
Und der Wähler, die Wählerin? Hat keinen Appetit mehr. Der vergeht nicht nur beim Sandwich, sondern auch in der Sterneküche. Da steht vor dir kein dampfender Teller mehr, sondern ein Deko-Kunstwerk ähnlich einer Achtzigerjahre-Wohnwand mit Innenbeleuchtung und Türmchen. Über allem ein Faden Balsamico. Man schaut, und hat keine Ahnung, wie es schmecken könnte. Wer isst schon Deko.
Sie lächeln in allen Farben, von allen Seiten, vor jeder Kulisse.
Wer wählt schon Deko. Ein bunter Reigen von Versprechungen. Papier im Briefkasten, das keiner will. Alle werden alles möglich machen. Wohl wissend, dass das nicht geht. Sie lächeln in allen Farben, von allen Seiten, vor jeder Kulisse. Müssen sie auch, sonst gehen sie unter. Wissen genau, dass sie nerven.
Spass macht das niemandem, diese Spirale, dieses Hinaufschaukeln, von allem zu viel. Und doch muss jeder, der in der Politik mitmachen möchte, irgendwie auffallen, irgendwie den Wählenden gefallen. Und zwar möglichst vielen Wählenden, denn sonst geht gar nichts. Sie bieten sich an, jedem etwas zur Auswahl. Ein Salatblatt, etwas Schinken, Tomate, ein hartes Ei, das Brot körnig und hart. Nichtssagend, fad.
Dabei sucht die Wählerin das Identitätsstiftende, möchte das Gesicht der Person sehen, die ihre Anliegen repräsentieren soll. Ohne wechselnde Masken, ehrlich, geradlinig. Bieten wir das? Können wir das bieten, ohne übersehen zu werden und unterzugehen? Das ist doch die Frage.
Ich weiss übrigens, wo sich noch Schinken-Sandwiches finden, die denjenigen meiner Kindheit sehr nahekommen. Schwöbli mit Schinken, ein dünnes Essiggurkenscheibchen hat es noch drin. Köstlich.
8. Oktober 2023
"Durch- und Überblick fehlt"
An sich unterhaltsam und zutreffend, scheint dieser Sandwich-Analyse der Durch- und Überblick zu fehlen: Dümpeln doch im System der parlamentarischen Parteiendemokratie alle von links über die Mitte bis nach rechts extrem aufwendig und teuer nicht nur nach Jekami-(Un)art perspektiven- und substanzlos durch die Landschaft, sondern stecken zusammen als Ganzes hoffnungslos im Eimer einer Politik, die kaum mehr wahrhaftig und wirklich wirksam etwas auszurichten und zu bewerkstelligen vermag. Und dies auch dann nicht, wenn es immer noch mehr sind, die mitmischen wollen.
Ueli Keller, Allschwil
"Mehr Kopf als Bauch"
Super! Man kann zwar nicht sagen, dass alles früher besser war als heute, aber die Schinkenbrote (alleine schon der Schinken) waren es allemal – genauso wie die Politik. Halt eben nicht nur die, sondern auch das Volk; da war zwar tatsächlich nicht "alles" besser (vielfach ganz im Gegenteil), aber mehr "Kopf" als "Bauch", mehr Toleranz und Allgemeinsinn als Egoismus und Besserwisserei.
Jedenfalls: Danke Andrea Strahm – für die schönen Erinnerungen, die Sie in mir hervorgerufen haben, und die köstliche Vergleichsbasis zu den Parteien und der Politik!
Peter Waldner, Basel
"Ganz fest empört"
"Schwöbli"? Aber, aber, ich bin ganz fest empört, geht ja gar nicht. ;-))
Erich Geissmann, Aesch
"Eines würde ich wählen"
Jetzt weiss ich zwar immer noch nicht, welche Partei wählen, aber eines würde ich wählen: e Schunggebreetli.
Hans Stelzer, Kleinhüningen