Gesichtslesen als die neue Wahrheit
Wir werden in Dunkelheit erstarren und erfrieren. Und das nach der Gluthitze.
Aber cool bleiben ist alles, und so habe ich mein Wohnzimmer mit Holzscheiten gefüllt, nur noch der Zugang zum Cheminée ist frei. Aber lassen wir das.
Viel wichtiger ist doch, was wir aus den Runzeln, der Gesichtsform und dem Haaransatz unserer Basler Regierungsmitglieder lesen können, denn genau darüber informiert uns die Tagespresse. Die Baudirektorin verliert sich nicht in Kleinkram, steht da etwa. Der Gesundheitsdirektor hat einen Sinn für Gerechtigkeit und unser Präsidialdirektor ein gutes Händchen für materielle Dinge. Bei der Finanzdirektorin regiert starre Vorsicht, kann ja für die Staatsrechnung nicht falsch sein.
Dass aber der Erziehungsdirektor unter Unzufriedenheit leiden soll, wie das Orakel meint, blieb uns bislang tatsächlich verborgen. Vielleicht ist daran sein Sturz in den Rhein schuld, kürzlich, beim Schifferstechen. Die Polizeidirektorin schliesslich kriegt alles in den Griff, Freude herrscht, weniger wohl bei den permanent Demonstrierenden. Dass unseren Wirtschaftsdirektor Selbstzweifel plagen sollen, entging uns bislang. Aber gut, dies nun zu wissen.
"Ich wünsche mir ein Medium, das mir
täglich sachlich mitteilt, was relevant ist."
Vielleicht könnte ein Hut helfen. Im gleichen Medium, unter "Life & Style", findet sich nämlich die brisante Reportage "Dank Hut zu mehr Mut". Wir fragen uns, warum das nicht gleich vernetzt angegangen wurde, wenn doch ein Hut den gesichtsbelesenen Regierenden bei Mutlosigkeit helfen könnte.
Ein adretter Cowboy-Hut, wenn es um den Abschuss von Rehen auf dem Friedhof geht, ein schicker Helm im Falle von Baufäll-Aktionen oder ein Pillbox-Hütchen bei Voten im Zusammenhang mit der Zulassung von neuen Corona-Impfstoffen. Themen also, bei denen mehr Mut nicht falsch wäre. Das Erscheinungsbild müsste aber mit der Kleidung abgestimmt werden, weshalb wir bei der Redaktion vorstellig wurden.
Auf unsere Frage hin hat uns die Tagespresse nun versichert, dass bereits eine Farb- und Stilberaterin daran ist abzuklären, wie die Kleidung der Regierenden farblich harmonisch an das Outfit von Angela Merkel und die Hüte der Queen angepasst werden könnte.
Das Horoskop für alle Regierungsmitglieder, so wurde uns zudem versichert, wird auch in diesem Jahr wieder Ende Dezember erscheinen und uns detailliert Auskunft darüber geben, wie sie im Jahr 2023 die Pandemie, die Energiekrise, den Bildungsnotstand, den Fachkräftemangel, die Inflation, die Krankenkassenprämien und weitere Mühseligkeiten in den Griff kriegen werden. Oder ob nicht. Wir werden also umfassend informiert sein.
Apropos Jahresende: Ich hätte einen Weihnachtswunsch. Und zwar kein Medium mit Kontakten ins Jenseits, sondern eines, das mir täglich sachlich mitteilt, was relevant ist. In Basel, in der Welt. Ohne News-Scouts, ohne Leserreporter, ohne Ausrufezeichen, ohne Unfälle und Verbrechen. Ohne Blabla und ohne Gesichtslesen und ohne Horoskop. Und ohne Experten und Sachverständige und Spezialisten, insbesondere ohne solche, die längst in Rente sind. Einfach bloss Fakten, korrekt recherchiert und fehlerfrei geschrieben. Natürlich mit witzigen Kolumnen, einem Kulturteil, Kritiken, Leserbriefen.
Wenn nämlich eine Tageszeitung, die seriöse Berichterstattung liefern sollte, derartigen Humbug wie Gesichtslesen bringt, dazu noch in Bezug auf unsere Regierenden, alles ernsthafte, bemühte Personen, dann fragt man sich halt, wie seriös wohl die anderen Informationen sind, die sie uns täglich auftischt. Alles kaffeesatzverlesener Unsinn?
12. September 2022
"Mithalten mit der Zeitgeschichte"
Andrea Strahm scheint da nicht ganz mitzuhalten mit der Weltgeschichte: "... wie die Kleidung der Regierenden farblich harmonisch an das Outfit von Angela Merkel und die Hüte der Queen angepasst werden könnte."
Georges Martin, Basel
"Was Lustiges und Lockeres"
Man kann es aber auch anders sehen: Ich finde, wer auch immer das bierernst nimmt, ist selber schuld. Aber in einer Zeit, wo Kriegsangst, Stromknappheit, Personalmangel, Wetterkapriolen die täglichen Berichterstattungen beherrschen und dann zu jedem dieser Themen mindestens zwei Experten den Senf dazu geben müssen, darf man doch mal was Lustiges und Lockeres lesen und – konsequenzlos – zur Kenntnis nehmen. Mich hat das jedenfalls amüsiert und dabei würde ich es auch belassen.
Dnaiel Thiriet, Riehen