Theater Basel, Kleine Bühne
Uraufführung
"Oops, wrong planet"
Autorin: Gesine Schmidt
Regie: Christian Zehnder
Musik: Christian Zehnder, Tomek Kolczynski
Bühne: Hyun Chu
Visuals: Jürg Egli
Mit Thomas Achermann, Carina Braunschmidt, Marco Ercolani, Bastian Heidenreich, Tomek Kolczynski, Chantal Le Moign, Florian Müller-Morungen, Michael Schönert
"Doch die Umwelt darf mir nie Welt werden"
„Es ist wichtig, die Welt mit Anwesenheit zu bedienen und erfolgreich mit ihr zu leben, doch die Umwelt darf mir nie Welt werden": Wenn der Schauspieler Florian Müller-Morungen diese Sätze mit der ihm eigenen Strahlkraft ins Auditorium spricht, dann fühlt man sich direkt ins Hirn des Kornelius Keulen versetzt, eines Autisten. "Das Denken ist immer da. Sicher bemerke ich die Irritationen der Aussenwelt, wenn ich unrichtig agiere. Dann blende ich sie noch mehr aus und erfülle mich im Denken."
Und wer gerne mal über Einsamkeit nachdenkt, der erlebt eine kleine Feierstunde, wenn Müller-Morungen mit eigentümlich, neutralem Lächeln nachschiebt: "Reines Sein ist Einsamkeit. Einsamkeit ist Ruhe in der Seele."
Die Person des Kornelius hat Autorin Gesine Schmidt aber nicht erfunden, sondern durch Recherche entdeckt und seine Sätze in persönlichen Interviews nachnotiert. Aber Kornelius und sein Bruder Konstantin (Heidenreich) wirken wesentlich glücklicher als die anderen drei (realen) Persönlichkeiten, die Schmidt vorstellt.
Obgleich die Autorin sich bemühte, die Autismus-Störungen nicht als Fluch darzustellen: Ärztin Christine Preissmann (Le Moign) schildert ihre Lage als wenig segensreich. Das autismusähnliche Asperger Syndrom kappt bei der 40-Jährigen die Möglichkeit, das Emotional-Bildhafte mitzudenken. Schon der Begriff "eine Fahrt ins Blaue" bedeutet Stress, denn was ist damit gemeint, und Party-Small-Talk ist für sie eine nicht bewältigbare Aufgabe, denn was soll man da reden?
Überhaupt: Wie ist es möglich, dass Menschen nicht strikt um 16.00 Uhr zur Abmachung erscheinen, wenn doch 16.00 Uhr ausgemacht war? Die Dachkammer ist ihr ein notwendiges Refugium vor den Überraschungsschrecken der Welt. Die "Reihenfolge" in der Sexualität studierte sie in Pornos – um mit Erleichterung festzustellen, dass in der Wirklichkeit nicht alle dargestellten Programmpunkte unbedingt ausgeführt werden müssen. An der Abschluss-Party, die die Freunde zu ihrem Doktortitel organisierten, nahm sie natürlich nicht teil. Sondern sah am Flughafen Flugzeugen beim Starten und Landen zu.
Gar keine Freunde mehr hat Steven (Schönert), er liebt dafür Vulkane. Wie ein Lava-Strom frisst er sich durch die Bücher, und mit ebenso unaufhaltsamer Schubenergie berichtet er von seiner Leidenschaft. Dahinter flackert Wut: Er wünscht er sich den ganz grossen Knall, der die Welt auseinander reisst. Ziemlich gerädert wirkt die 46-jährige Mutter Doreen Westphal (Braunschmidt), der alles Verständnis für die autistische Tochter nichts mehr nützt: Sie rastet aus, schreit, weil die aufwändige Dauerbetreuung sie überanstrengt.
Diese Schilderungen hat Regisseur Christian Zehnder, bekannt als Musiker des Klangduetts "Stimmhorn", in den Kokon endloser Echoklangschlaufen verpackt. Es sind hermetische Klanginnenwelten, die Musiker Tomek Kolczynski, auf einem Hochsitz thronend mit Mikrophon, Laptop und Multiplikations-Elektronika simuliert: ein Moll getönter Mix von frühen Pink Floyd, Brian-Eno-Ambient und den bedrohlicheren Intervallen eines György Ligeti. Wenn Steven von den Vulkanausbrüchen mit Stärke 7 träumt, erzittert die kleine Bühne wie im Weltuntergangsfilm.
Die Autisten kleben in weissen, kugelrunden Schalensitzen. Bald gleiten die weissen Kugeln wie ein interplanetarisches Ballett auf Rollen bedächtig durch den Kosmos, bald werden sie von Videoprojektionen mit übersteuerten Rot-, Gelb- und Grüntönen überzogen. Die visuellen und klanglichen Elektronikteile sind derart prominent, dass sie zum bestimmenden Mitspieler werden.
Aber Zehnder will die dargestellten Persönlichkeiten und deren Not auch durch das Spiel plastisch werden lassen. Insistierend hilfesuchend hängt sich die abgezerrte Mutter an einen Arzt im weissen Kittel (Ercolani), der pfeift nur wie ein Vogel im Wald und wendet sich "autistisch" seinen Kameras auf dem Arbeitstisch zu, die er wie Mikroskope behandelt: Für den Forscher ist Autismus Gegenstand klinischer Forschung, für die Mutter ein überforderndes Schicksalselement. Und Chantal Le Moigns Doktorin wirkt in ihren Schilderungen wie eine stalinistische Technokratin - und weckt mit ihrem Rede-Stakkato Abscheu und Mitleid: eine der stärksten und eigenwilligsten Leistungen der Schauspielerin.
Dazu spielt und singt der Jazzmusiker Thomas Achermann Songs von "Ich", "Du" und "Unberührbarkeit". Das Publikum applaudierte freundlich.
16. April 2011