Theater Basel, Grosse Bühne
Premiere
"Jenseits von Eden"
Nach dem Roman von John Steinbeck
Stückfassung: Ulrike Syha
Regie: Peter Kastenmüller
Bühne: Michael Graessner
Video: Martin Bosch
Musik: Pollyester
Mit Martin Butzke, René Dumont, Hanna Eichel, Marie Jung, Vincent Leittersdorf, Astrid Meyerfeldt, Lorenz Nufer und Statisten
Theatermaschine auf Hochtouren
Alles ist gross und breit an John Steinbecks Klassikerroman: Über 700 Seiten breitet er ein Stück amerikanischer Geschichte von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkriegs aus. Er schafft es, trotz seinem biblischen Ausmass, allerdings auch, seit seinem Erscheinen 1952 ganze Lesergenerationen von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln. Aber nicht eine spannende Story, deren Auflösung man entgegenfiebert, ist das treibende Element, sondern die Art, wie Steinbeck uns hautnah an verletzte, dem Edelmut verpflichtete und aber von dunklen Trieben heimgesuchte Kreaturen im gottgeliebten Amerika teilnehmen lässt: Die armen Siedlerfamilien, die in der Hoffnung auf eine Zukunft in Kaliforniens unwirtliches, karges Salinastal hereinströmen.
Die berühmteste Bearbeitung des Epos, die Verfilmung von Elia Kazan (1955) mit James Dean als Cal Trask, beschränkte sich weitgehend auf den zweiten Romanteil, und vermochte mit dieser Komprimierung eine hochdramatische, beinahe Strindbergsche Kammerspiel-Verdichtung zu schaffen: Ein rechtschaffener Adam Trask, der den beiden Söhnen ein gutes Zuhause geben will, und diese aber nicht von den Flüchen und Erblasten der Vergangenheit bewahren kann. Da ist seine eigene Jugend zwischen militärischem Drill des Vaters und der brutalen Gewalt seines Bruders, die Adam haben unzugänglich und hart werden lassen. Da ist seine Frau Cathy, die ihn verlassen hatte, um im städtischen Bordell eine steile Karriere zu machen. Sie sei tot, sagt er den Jungen. Aber der ruhelose Cal findet die Wahrheit heraus. Getrieben von Eifersucht um die väterliche Liebe weiht er seinen Bruder Aaron ein, der innerlich zusammenbricht und sich zur Weltkriegs-Front meldet.
Aber nicht diese Keimzelle wollten Autorin Ulrike Syha und Regisseur Peter Kastenmüller näher vorstellen. Diese individuell-psychologische Wertediskussion habe Syha nicht interessiert, sagt sie im Programmheft. Vielmehr öffneten sie auf der Grossen Bühne das Blickfeld breit auf die Mentalitäts-Geschichte des amerikanischen Volkes und damit die Entstehung des "Go-West"-Mythos. Nicht allein, dass die Familiensaga von Anfang bis Ende durchgespielt wird, nein, die eigens erfundene Haupterzählerin John Europe nimmt das Publikum auch auf ausführliche kulturwissenschaftliche Exkurse mit, die etwa darstellen sollen, wie der Amerikaner im Gegensatz zum Europäer in der Welt steht.
Die langen Vortragssätze könnten aus Büchern des Philosophen Peter Sloterdijk stammen. Die Diktion von Astrid Meyerfeldt ist aber die einer Primarschullehrerin. Der Amerikaner sei noch immer, unbehindert durch Kultur, mit seinen Urkräften verbunden, referiert sie kristallklar, und gleichzeitig sehen wir auf riesigen Videoscreens farbenprächtig feuchte Blumen und Pflanzen im Megazeitraffer aus dem Boden spriessen und sich zitternd zur Vollreife auswachsen. Wir hören zu und glauben zu verstehen: Theater als Hörsaal.
Aber auch das ist noch nicht alles: Regisseur Kastenmüller sucht auch den Aufprall der Bilder, die Amerika über sich am liebsten zeigt. Auf den Screens oberhalb der Bühne nehmen uns dahinfliehende Landschaftsbilder gefangen, deren Hochglanzschönheit an das Naturmagazin "Geo" erinnern. Und gleichzeitig ballert auf der erdbedeckten Bühne unten Familienvater Cyrus Trask mit einer Schrotflinte umher. Zwischen den beiden Westernhäuschen sieht das so aus wie in den eigens für Touristen aufgebauten Wildwestkäffern, wo für Europäer Schein-Schiessereien vorgeführt werden. Und über allem thront ein swimmingpool-grosses Auge an der Hinterwand, das als Projektions- aber auch als Spielfläche dient. Dort im Auge Gottes oder des Bewusstseins detonieren in einem atemberaubenden Bilderstakkato Atombomben, rauschen Menschenmassen, stürzen Häuser ein oder wird Cathy von einem Zuhälter zusammengeschlagen.
Konzeptgetreu haben sie ihre Performance mit vielen, aktuellen Bezügen aufgeladen. Da darf ein Indianerhäuptling nicht fehlen, der ein "Jesus loves you"-Schild vor sich her trägt oder der Ami-Nazi mit Baseballschläger und Batman-T-Shirt. Zwei Amish-Frauen im Kopftuch wuseln herum und Cathy als Bordellbesitzerin ist frisiert und aufgeputzt wie Hillary Clinton.
In dem multimedialen Spektakel, das zudem vom Live-Bass-Spiel der Rockbassistin Pollyester fast permanent mit wummerndem Grundgrollen oder mit zurückhaltend gezupften Arpeggios untermalt wird, haben die Figürli, die Schauspieler, einige Konkurrenz zu übertönen. Also ist eine körperbetonte, holzschnittartige Spielweise angesagt: Eifrig wird geschritten, eilends wird gerannt, heiser wird geschrien. Fast jede dramatische Auseinandersetzung führt sofort zum Ringkämpfli. Hier läuft eine Theatermaschine, über lange Strecken läuft sie auf allen Ebenen auf Volldampf, ohne dass aber die Dynamik sich entwickelt, denn alles ist nur äusserlich. Es gibt keinen Fokus und keine Vertiefung. Die Videoprojektionen wiederholen sich als habe sich die Maschine verselbständigt.
Obgleich der Riesenroman in Siebenmeilenstiefeln mit sehr kurz und prägnanten Szenen durchschritten wird, obgleich die Schauspieler in seltener Bestform artikulieren, sind all die verschiedenen Spielebenen inklusive intellektuellem Ballast plus anspielungsreicher ironischer Einfärbung und die Anforderung, in Grundzügen zu verstehen, wie die Geschichte geht, im Minimum anspruchsvoll. Eine dramatische Steigerung, die in die dreieinhalb Stunden Zug brächte, wurde bewusst ausgelassen. Nach der Pause waren die Reihen gelichtet.
Marie Jung gibt eine wunderbar eiskalte Cathy Trask. Martin Butzke trifft als Cyrus Trask den Rauhbeinton, so dass man sich in einen deutschsynchronisierten John Wayne-Western versetzt glaubt. Lorenz Nufer trägt als Aaron Trask seine Naivität so demonstrativ zur Schau als wollte er sagen: Ich bin der sündigen Welt gerne eine Zumutung.
Freundlicher Applaus.
P. S.: Kastenmüller hatte grossen Erfolg gehabt, als er mit einem Vierstundenabend des Romans "Berlin Alexanderplatz " in Basel debütierte.
12. Februar 2011