Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Die drei Schwestern"
Autor: Anton Tschechow
Regie: Elias Perrig
Bühne, Kostüme: Wolf Gutjahr
Mit Andrea Bettini, Urs Bihler, Nicole Coulibaly, Thomas Douglas, René Dumont, Hanna Eichel, Inga Eickemeier, Marie Jung, Jürg Koslowsky, Barbara Lotzmann, Lorenz Nufer
Der Moskau-Traum im Hamsterrad
Tja, vielleicht ging es ja nur mir so. Ich empfand eine eigenartig freudlose Stimmung gestern Donnerstagabend an dieser Premiere. Das Haus – nicht ganz voll – liess nur einen plätschernden Applaus hören. Ohne Lächeln – ganz wie eine Pflichtübung – trat der Schauspieldirektor an den Bühnenrand, um die Verneigung zu absolvieren. Kein erlöstes Leuchten - nach der zweieinhalbstündigen Anspannung - trat aus den Mienen der Ensemblespieler hervor.
Na gut, mag man einwenden, Tschechows Drama hatte auch vor 110 Jahren an der Premiere für eine niedergedrückte Stimmung gesorgt. Unfähig zur Handlung müssen die drei Generalstöchter Olga, Mascha und Irina zusehen, wie ihr Leben vergeht, wie ihre adlige Weltordnung zerfällt und wie die Kleinbürgerin Natascha von Haus und Gut Besitz ergreift, und sie daraus nach und nach verjagt.
Gestrandet in einem namenlosen Provinznest träumen sie von der Rückkehr in die Metropole Moskau, dem Ort ihrer glücklichen (oder glorifizierten?) Kindheit. Ihr Bruder Andrej soll sie als grosser Wissenschaftler dorthin zurückbringen. Aber dieser findet keinen Halt, seit der übermächtige Vater tot ist. Er wird korpulent, spiessig und verprasst mit seiner Spielsucht das familiäre Gut: eine leichte Beute für die tüchtige Natascha, die sich von ihm schwängern lässt.
Für dieses Drama hat Regisseur Perrig auch durchaus ein sinnfälliges und sofort verständliches Bild gefunden: Er lässt die Figuren immer wieder auf der Drehbühne Runden drehen. Regungslos kreisen sie dem Ende entgegen. Sehenden Auges! Denn Tschechows Personal ist intelligent, feinsinnig, humorvoll genug, um die eigene Lage zu erkennen. Wieder und wieder reden sie davon, nach Moskau zu ziehen, arbeiten zu wollen, sich Ziele zu setzen. Wieder und wieder reden sie aber auch davon, dass sie es am Ende eben doch nie nach Moskau schaffen werden.
Es ist deprimierend: Weder die Schwestern noch die Offiziere, die ihnen den Hof machen oder ihnen sonst stundenlang Gesellschaft leisten, sind sich den geistlosen, ermüdenden Erwerbsalltag gewohnt. Weder die Militärs noch die Adligen verstehen sich darauf, eine eigene Existenz zu formen. Sie kennen nur das tagelange Nichtstun und die Pflichten ihrer Kaste. Aber träumen und reden, das können sie, das haben sie kultiviert. Davon erfahren wir viel bei Tschechow: eine Dramaturgie der vibrierenden, der sich aber auch selber genügenden Regungslosigkeit.
Perrig hat diese Träume-Mentalität mit einem breiten Vorhang aus schrillfarbenen Leuchtschnüren verdinglichen lassen, der die Bühne in einen vorderen und einen hinteren, verborgenen Teil halbiert. Zuweilen drehen sie auch gegeneinander um dieselbe Achse, die Bühne und der grosse Vorhang: Unruhe herrscht, Zeit vergeht, eine Chiffre des Ausgeliefertseins. Die Drehbühne knackt und dröhnt lautstark, sie dominiert den Gesamteindruck. Um am Ort "stehen" zu bleiben, müssen die Leute gehen. Die nackte, schwarze Bühne wirkt wie ein riesiger Schlund, ein permanent wirksamer Horror vacui. Das Seelische wird uns also bildlich als Belastung auferlegt. Da gibt's weder etwas zu deuteln noch zu entdecken noch nachzuspüren.
Aber nachzuspüren gäbe es eigentlich viel in dem Stück. Die intelligent ausgestaltete Ambivalenz zwischen Genuss und Kummer: Das bringt hier Spannung, das macht Ausstrahlung. Tschechows Schwestern können ja durchaus geniessen. Sie sind trotz Kummer fröhlich und achtsam, selbstisch und ausgelassen, stilvoll und nachdenklich. Auch wenn sie weinen, sind sie trainiert souverän. Ihr Selbstgenuss besteht darin, abzuschmecken, wie Wetterstimmungen, Gefühlsregungen, Wortartikulationen – ob in der Gegenwart oder in der Erinnerung - auf sie einwirken zu lassen.
Doch bei Perrig sind die Schwestern keine Damen, sondern die hektischen, lebenstüchtigen Frauen von heute, die das Verweilen als Lebensqualität längst verloren haben. In damaliger Mode sehen sie darum kostümiert aus. Sie sind genervt, wenig aufmerksam, überaffektiert, fahrig im Ausdruck und auch in der Sprache. In Momenten der Schwäche wirken sie weinerlich und kindisch.
Und damit stellen sie sich nicht anders dar als Tschechow die Kleinbürgerin Natascha (Coulibaly), die er eigens auf diese Weise mit Sentimentalität und kalten Machtinstinkten versehen hat. Um sie doch noch abzusetzen, musste Perrig sie nun betont zu einer Exotin machen mit eigenwilligem Glitzerhaarschmuck und einer sehr vordergründigen Gewalt, die bei Tschechow immer nur kurz unwillkürlich aufblitzt, um sich wieder hinter bürgerlichem Wohlanstand zu verbergen.
Die naturalistische Spielweise mit ihrem äusserlichen, psychomotorischen Nachvollzug (Herumnesteln, permanente Gesichtszuckungen) beherrscht gerade bei den Schwestern das Spiel. Überhaupt gelang es nicht allen Ensemble-Mitgliedern, mit geklärter Rollenführung aufzutreten. Die teilweise schludrige Artikulation und unentschiedenen Betonungen legen den Schluss nahe, dass für die Arbeit am anspruchsvollen Text zu wenig Zeit aufgewendet wurde. Nicht das Drama, sondern das Zuhören machte einen teilweise bange.
Das leuchtende Gegenbeispiel war ausgerechnet der Schauspieler, der am wenigsten Zeit zur Einstudierung hatte: René Dumont gab seinen Werschinin mit klarer körperlicher und sprachlicher Plastik, wirkte als einziger in Uniform schneidig. Er sei vor fünf Tagen für Dirk Glodde eingesprungen, der krankheitshalber ausgefallen war – so die Auskunft aus der Dramaturgie des Hauses. Barbara Lotzmann als treue Kinderfrau Anfissa sowie Urs Bihler als zynischer Militärarzt Tschebutykin zeigen solides Handwerk.
13. Mai 2011