Kantonsgericht fällt Urteil ohne Begründung
Von PETER KNECHTLI
Gerichtsvertreter betonen im Zusammenhang mit dem Öffentlichkeitsprinzip von Strafprozessen immer wieder in bedeutungsschwangeren Worten die Wichtigkeit der Prozessberichterstattung durch die Nachrichtenmedien: Sie seien gewissermassen demokratische Kontrollinstanz und das unabhängige "öffentliche Auge" auf das, was und wie in den Gerichtssälen ge- und verurteilt wird, argumentieren sie nach aussen.
Nach innen unternehmen sie wenig bis nichts, um den akkreditierten Medienschaffenden Arbeitsbedingungen zu bieten, die Grundlage einer seriösen Gerichtsberichterstattung sein müssten. Mehr noch: Diese Bedingungen haben sich im Verlaufe der Jahrzehnte nicht etwa verbessert, sondern eher verschlechtert.
Die gegenüber Medienschaffenden gebotenen minimalsten Dienstleistungen sind durchaus geeignet, eine korrekte und durchaus auch hintergründige Berichterstattung zu erschweren oder zu verhindern. Ein professioneller Dialog zwischen Gerichten und den Nachrichtenmedien existiert nicht.
"Der Fall ist ein weiteres Indiz dafür, wie
gering Gerichte die Öffentlichkeit schätzen."
Ein frustrierendes Beispiel bot diese Woche die Berufungsverhandlung im Veruntreuungs-Fall der ehemaligen Kassiererin der römisch-katholischen Kirchgemeinde Grellingen und der damaligen CVP vor dem Baselbieter Kantonsgericht.
Wie üblich ohne im Besitz von schriftlichen Unterlagen zu sein, hörten die beiden anwesenden Medienvertreter während vier Stunden Beweisanträge und Plädoyers an. Kurz nach Mittag schlug der vorsitzende Richter Markus Mattle (Grüne) vor, das Urteilsdispositiv des Gerichts den Parteien am Nachmittag des folgenden Tages per E-Mail zuzustellen.
Dieser Service stand den anwesenden Medienvertretern nicht zu. Vielmehr wies der Verhandlungsleiter den Journalisten im Sinne einer Holschuld an, das Urteil beim Gerichtsschreiber tags darauf telefonisch abzurufen. Auf die Frage des Journalisten nach seiner Telefonnummer lautete die spontane Antwort: "Die können Sie im Internet nachschauen."
Damit war die Verhandlung endgültig geschlossen und somit ein Fall eingetreten, den ich in meiner Präsenz in Baselbieter Gerichtssälen seit 1974 noch nie erlebt hatte: Ein stummes Gericht, das sein Urteil elektronisch und über Telefon verkündet, ohne es gegenüber den Parteien, aber ebenso gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen. Sorry, geschätztes Gericht, und bei allem Respekt: So bitte nicht.
Dem Gericht könnte insofern minimales Verständnis entgegengebracht werden, als sich eine Urteilsbegründung in erster Linie an die angeklagte Person richtet – die im vorliegenden Fall aber nicht anwesend war, weil sie sich "nicht wohl fühlte". Aus Gründen der Zeitökonomie dürfte auch der fragwürdige präsidiale Vorschlag entstanden sein.
Zwar können Berufungsverhandlungen in der Tat schriftlich und damit unter Ausschluss der Medienschaffenden geführt werden. Der Aufsehen erregende Fall "Grellingen" aber war im offiziellen Verhandlungsprogramm klar als "öffentlich" deklariert.
Anrecht auf eine Begründung des Urteils – erst recht, wenn es deutlich verschärft wird und einen Anteil an unbedingter Freiheitsstrafe enthält – haben aber nicht nur die Beschuldigten, sondern ebenso die im Prozess vertretenen Parteien und die Medienschaffenden als Bindeglied zur Öffentlichkeit.
Ein Spruchkörper, der in einem klaren Fall von öffentlichem Interesse nicht begründet, wie er zu seinem Urteil kam, verunmöglicht Gerichtsberichterstattung. Es versetzt die Prozessbeobachter in die Lage, der Öffentlichkeit einen wesentlichen Bestandteil der Verhandlung vorenthalten zu müssen, was faktisch einem gerichtlich ausgelösten Verstoss gegen die journalistischen Fairness-Regeln gleichkommt.
Das hier beschriebene Szenario, in dem sich die Rechtsprechung um eine mündliche Urteilsbegründung drückt, ist fraglos nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Aber ein weiteres Indiz dafür, wie gering Gerichte das Öffentlichkeitsprinzip schätzen. So verspielt die Strafjustiz Vertrauen. Darum darf dieses Beispiel keinesfalls Schule machen.
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• 17. Januar 2023: "Strafverschärfung: Kirchen-Kassiererin muss 'sitzen'"
• Präsidium der Abteilung Strafrecht nimmt Stellung
18. Januar 2023
"Danke und Gratulation"
Danke für den Kommentar und herzliche Gratulation zum Erfolg!
Ruedi Messerli, Oberwil
"Gibt es denn keine Aufsicht?"
Gibt es denn keine Aufsicht über das Kantonsgericht, die solche eigenartigen Verfahrens-Handhabungen rügen und die nötige Korrektur verlangen können?
Viktor Krummenacher, Bottmingen