Das Rätsel von Mutters Handschuhen
Meine Mutter und meine Grossmutter trugen immer Handschuhe, wenn sie "in die Stadt" gingen. Im Winter verstand ich das ja noch, die Winterhandschuhe waren gefüttert und gaben warm. Aber wozu die Handschuhe im Sommer dienten – da waren es leichte, aus dünnem Leder mit ausgestanztem Löchleinmuster, oder gehäkelte mit Spitzenmuster –, das war mir als Kind ein Rätsel.
"Wegen der Hygiene", klärte mich meine Mutter auf, als ich sie darauf ansprach. Ach so, reimte ich mir zusammen, das war ja in der Zeit, da in den Tramwagen noch Email-Schildchen hingen mit der Aufschrift: "Nicht auf den Boden spucken!"
Erst heute, da ich selber im Grossmutter-Alter bin, geht mir ein Licht auf. Wenn ich meine Hände betrachte, sehe ich auf den Handrücken vor allem Falten und Runzeln. An den Fingergelenken verlaufen sie quer, und auf den Handrücken längs, entlang den ebenfalls deutlich hervortretenden, zu den Fingern führenden Sehnen und Adern. Alles andere als die niedlichen Patschhändchen von kleinen Kindern. Oder die zarten, langfingrigen Hände eines Teenagers.
"Da ging mir ein Licht auf: Das mit der
"Hygiene" war nur ein Vorwand gewesen!"
Da ging mir ein Licht auf: Das mit der "Hygiene" war nur ein Vorwand gewesen! Oder allenfalls ein willkommener Nebeneffekt des Handschuhtragens, aber nicht der eigentliche Grund. Möglicherweise dienten auch schon die durchbrochenen Spitzenhandschuhe, wie sie, viel früher noch, von Fächer schwingenden Hofdamen getragen wurden diesem Zweck, sprich: der Verschleierung von Tatsachen.
Ich musste damals als Kind beim Anblick eines solchen Handrückens immer an Maultaschen denken. Maultaschen sind eine Spezialität der schwäbischen Küche: Taschen aus Nudelteig mit einer Füllung aus Brät, Spinat, Zwiebeln und eingeweichtem Brot. Eine nördliche Variante der Ravioli. Meine Grossmutter machte sie zu Hause selber. Die Küche war dann jeweils blockiert, da alles, was sich als Unterlage eignete, mit dem dünn ausgewallten Teig belegt war. Mit einem Rädchen wurden kreisförmige Teigplätzchen ausgeschnitten und einzeln mit der Füllung belegt.
Darauf kam der "Deckel" mit der gleichen Form wie der Boden, und deren Ränder – das war dann jeweils die Arbeit für uns Kinder – mussten mit den Zinken einer Gabel aufeinander gedrückt werden, damit die Füllung später beim Kochen im Salzwasser nicht herausquellen konnte.
Genau diese Füllung macht es aus, dass ich bei Anblick meiner Hände immer an Maultaschen denken muss: es bildete sich nämlich im kochenden Wasser auf der Oberfläche der gefüllten Teigtäschchen ein Netz von gewölbten, schnurförmigen Linien. Diese schimmerten, wohl auf Grund des Spinats in der Füllung, grünbläulich durch den Teig. Und das sah dann aus, wie die Handrücken meiner Grossmutter. Und wie heute meine eigenen!
Vielleicht sollte ich mir ein paar Spitzen- oder Lederhandschuhe anschaffen. Das Argument der Hygiene im Tram ist ja heute noch – oder wieder – zutreffend. Und statt aufgemalt auf Email-Schildchen, könnten Anstandsregeln wie "Nicht auf den Boden spucken!" über das elektronische Laufband flimmern. Da gucken ja alle hin.
9. Dezember 2013
"Wir haben gelebt, mal gut, mal schlecht"
Beim Lesen Ihrer Kolumne kam mir spontan die Idee, eine Art Gesichts- und Halshülle zu kreieren. Man könnte im Sommer einen schönen, luftigen Hochzeitsschleiertüll dafür verwenden, oder selbst etwas Schönes häkeln.
Doch dann verwarf ich die Idee ganz schnell wieder und schalt mich, dass ich überhaupt darüber nachdachte! Auch ich bin schon (Himmel, wo ist die Zeit geblieben) seit kurzem Grossmutter und auch meinen Händen sieht man an, dass sie schon einige Jährchen gebraucht wurden.
Auch Gesicht und Hals waren dabei. Jedoch ist es doch genau das, was uns ausmacht. Wir haben gelebt; mal gut, mal schlecht, mal war es mittelmässig und das darf man uns auch ansehen. Obwohl ich diese feinen Handschuhe eigentlich sehr schön und weiblich finde, würde ich sie nie tragen.
Es gibt ja auch noch Wasser und Seife. Und was noch dazu kommt: Kein Mann würde sich über so etwas Gedanken machen! In diesem Sinne: Es lebe die Gleichberechtigung J!
Sylvie Sumsander, Birsfelden
"Die Falten übersehe ich"
Liebe Corina, Du sprichst mir aus dem Herzen, ich habe mich amüsiert über die Handschuh-Geschichte Deiner Grossmutter. Als naturverbundene Mutter und Grossmutter ziehe ich die Handschuhe lediglich gegen die Kälte an. Die Falten im Gesicht wie auf den Händen etc. übersehe ich nach dem trendigen Wort "think positiv". Viel Vergnügen auf dem Weg des Älterwerdens.
Yvonne Rueff-Bloch, Basel