Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Graf Öderland"
Autor: Max Frisch
Regie: Simon Solberg
Bühne: Maren Greinke, Simon Solberg
Kostüme: Katja Strohschneider
Video: Raphael Zehnder
Mit Inga Eickemeier, Dirk Glodde, Martin Hug, Claudia Jahn, Vincent Leittersdorf, Jan Viethen
Die Bünzlis laufen Amok
Wer möchte nicht auch gelegentlich mit der Axt alles zusammen schlagen: Warum nicht einen kleinen Hauswart runterhacken, der halt blöderweise im Weg steht? Genau so macht es ein junger Bankangestellter: Ohne Motiv – und der Einzige, der ihn versteht, das ist ausgerechnet sein Ankläger, der Staatsanwalt. Auf der Bühne des Schauspielhauses stehen sie plötzlich neben einander: Der Mörder in der Gefängniszelle und nebenan im biederen Arbeitszimmer der sonst so gewissenhafte Beamte, der die Contenance verliert. Heftig gopferdammend türmt Martin Hug als Staatsanwalt nachts um zwei demonstrativ seine Fallordner auf dem Pult auf. Es hat etwas Faustisches.
Denn auch er sieht sich als Hund, der nicht länger so leben möchte. Auch er wird bei seinen bitteren Erörterungen gestört, nicht von Wagner, sondern von seiner Frau Elsa, die ihn demonstrativ nicht versteht. Alles sei nur "Ersatz" statt wirkliches "Leben" bei "uns", ruft er aus: Wir warteten und hofften immer, auf Freizeit, auf den Fussballmatch am Sonntag, auf ein Jenseits. Pflicht und Tugend seien wichtiger als das "Leben", liess Frisch seinen Antihelden sagen. Die Schweiz 1951 mochte die subversive Attacke nicht: Die Uraufführung wurde zu Frischs erstem "Misserfolg als Dramatiker" (Programmheft).
Der Staatsanwalt packt die Axt in den Aktenkoffer, geht weg, wird zum Aussteiger. Die Leute bejubeln ihn als "Graf Öderland mit der Axt in der Hand". Fortan führt er die unpolitischen Unzufriedenen, die Bünzli-Normalverlierer, in denen ein Amokläufer Leibacher schlummert, eine Volkspartei der Axt-Schwinger, die sich ihren Zusammenhalt mit einem kleinen Axt-Emblem am Revers gegenseitig versichert. Das Land gerät aus den Fugen. Am Ende gewinnt nicht die Diktatur "von unten" sondern (wieder) die "von oben".
Eigentlich ein Steilpass, möchte man meinen, diese absurde Story aus jenen vergangenen Tagen, in denen Bundesräte sich mit dem Dichter solcher Zeilen nicht beim Abendessen ertappen lassen wollten, zum Angriff auf heutige politische Protagonisten weiterzuformen.
Aber Regisseur Simon Solberg (Jahrgang 1979) widerstand der Versuchung. Und das ist gut so. Vielmehr beschleunigte er Frischs Pfeifenraucher-Bedächtigkeit, die allzu sehr auf die Moral hinter der Moritat drückt, zur heutigen atemberaubenden Werbespot-Schnittfrequenz hoch. Es herrscht Hysterie im Lande, die Akteure rennen schreiend auf der Bühne herum. Die Macht hat, wer die anderen rennen lässt.
Der umtriebige Doktor Hahn (Viethen) agiert zunehmend am Rande eines Nervenzusammenbruchs als Nebenbuhler und Gegenspieler des Staatsanwaltes. Mit beschwörenden Formeln tritt er vor die Fernsehkamera. Panisch müssen er und die Frau Staatsanwältin Elsa (Jahn) erkennen, dass sie immer einen Schritt hinter dem wahnsinnigen "Grafen Öderland" herhinken. Am Ende verprügelt er seinen Mandanten, den Mörder, bevor dieser grundlos freigelassen wird.
Inga Eickemeier bewältigt (nach Frischs Vorschrift) in galoppierendem Wechsel gleich drei Rollen – eine schriller als die andere: Eickemeiers Jungmädchen wollen nur Sex, Abenteuer, Tempo, Macht, ob als Dienstmädchen Hilde oder als Polizistentochter Inge.
Über viele der dahinjagenden Gags und Jokes lacht das Publikum – wenn ihm die Zeit dazu bleibt. Brutal laute Gitarrenriffs schneiden kurze harte Zäsuren, drücken Vorwärtsbewegung aus. Die Szenen wechseln im Eiltempo "on the run". Mehrere Dialoge sind bis auf die Kernsätze ausgestrichen. Auf diese Weise alles überdrehend konnte Solberg sogar die Ursprungszeit mit einigen Akzenten im Interieur oder bei den Kostümen "stehen lassen", und doch dem Stück den Staub ausklopfen.
Hauptbotschaft des Abends: Für Frischs Ansatz, wie er die grundlegenden Konflikte damals zur Diskussion vorlegte, fehlt heute die Zeit. Indes überwand Solberg nicht die Hauptschwäche des Stücks: Es ist ein Kopfstück zum Schmunzeln. Das Staunen stellt sich auch in dieser grellen und lauten Version nicht ein. Diese forderte vom Ensemble eine konzentrierte Leistung, die das Publikum lange und vor allem bei Eickemeier und Hug kräftig beklatschte.
11. September 2010
"Furgler blieb dem Dichter nichts schuldig"
Immerhin: Wenn er sich auch nicht beim Abendessen ertappen liess, hat Bundesrat Kurt Furgler mit Max Frisch am Fernsehen die Klinge gekreuzt. Dabei hat er intellektuell und sprachlich das "Florett" briliiant geführt. Er ist dem Dichter nichts schuldig geblieben! Ein "Jahrhundert-Fernseh-Abend".
Albert Wirth, Liestal