Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere
"Orpheus descending"
(Orpheus steigt herab)
Autor: Tennessee Williams
Regie: Florentine Klepper
Ausstattung: Adriane Westerbarkey
Licht: HeidVoegelinLights
Musik: Tobias Hofmann
Mit Andrea Bettini, Urs Bihler, Thomas Douglas, Hanna Eichel, Helga
Fellerer, Fabio Freire, Margot Gödrös, Arthur Kimmerle, Chantal Le
Moign, Barbara Lotzmann, Carolin Schär, Peter Schröder
Schreie, Schüsse, Beifallsrufe
Wenn das Publikum nach einer dreistündigen Tennessee-Williams-Aufführung in Jubel ausbricht, dann darf das in den heutigen Tagen durchaus als gelungenes Comeback gelten. Denn (leider!) wird dieser Klassiker des vergangenen Jahrhunderts nur mehr wenig gespielt. Es ist ein Schauspieltheater der verletzten Gefühle und verstörter Seelen. Das wollen heutzutage weder die Künstler noch das Publikum. Die Schauspieler haben mehr denn je Angst vor dem Vorwurf des Kitsches, das tiefe Gefühl so recht fleischig auszuspielen – vielleicht aber noch mehr vor dem Kontrollverlust, wenn sie sich im Sentiment preisgeben müssten. Und das Publikum fürchtet die brutale Nacktheit unkonventionell vorgebrachter Gefühle und die penetrante Nähe zur Bühne. Zu unangenehm.
Wenn das Publikum heute Momente intensiven Gefühlsausdrucks will, geht es ins Kino. Die Leinwand ist weit weg, das Geschehen ist Konserve, dort folgt bald der nächste Schnitt, die Musik gibt einem die Schutzzone für allfällige Schluchzer. Warum heute das Theater nicht die Spezialistenanstalt gegen konventionellen Gefühlsausdruck, ja sogar die Verbotszone für voll freigesetzte Gefühle ist, das wäre eine Debatte wert.
Auf der Kleinen Bühne gab es jedenfalls an der Premiere Beifallsrufe, und das hing durchaus damit zusammen, dass sich das Ensemble unter der Spielleitung von Regisseurin Florentine Klepper dem geschilderten Common Sense beugte: kaum überbordende Gefühlsäusserungen, auch nicht zu viele verschiedene Register und Farben. Laut Schreien: Ja. Gesicht zucken lassen: Ja. Sentimentalitäten der Verliebtheit: Ja. Aber welche Klänge kommen aus einem Menschen, der zutiefst erschüttert wird? Welche Schwingungen entstehen, wenn Menschen glauben, erstmals richtig von einem anderen verstanden zu werden? Noch immer geht solches durch Mark und Bein, und das kam nicht vor. Das Stück stützt sich aber auf solche einschneidende seelische Erlebnisse.
Wie oft bei Williams tritt etwas Fremdes in einen bereits angegriffenen Organismus ein, und sorgt für die tragische Wendung in die Katastrophe. Das Fremde hier ist der Gitarrenspieler Valentine. Der Organismus ist Lady Torrance. Im oberen Stockwerk ihres Einkaufsladens krepiert langsam ihr Tyrannen-Ehemann Jabe. Die Lady ist besonders empfänglich für Exaltationen, denn sie ist unheilbar geschlagen: Ihr Vater war in seinem eigenen Weingarten verbrannt, die Feuerwehr war nicht ausgerückt, denn er hatte "Niggern" Alkohol verkauft. Wegen dieser Geschichte – sie war 14 und bereits schwanger – gab ihr der erste Liebhaber den Laufpass. In dieser Lage liess sie sich von Jabe "kaufen". Emotional abgehärmt ist sie in der Lebensmitte angekommen.
Aber nun stellt die Lady den Sonderling Valentine, der eine Jacke aus Schlangenhaut trägt, als Verkäufer ein. Der ist jung, poetisch und erzählt von Vögeln, die nie auf der Erde landen sondern sogar im Schlafen durch die Nacht fliegen. Das sind Sätze, die sonst niemand in dem stockkonservativen Südstaatenkaff spricht. Sie blüht auf, richtet mit Valentine eine neue Konditorei im Laden her. Aber in der Liebe, die entsteht, regiert die Angst: Er fürchtet um seine Autonomie, sie will ihn halten, auch die jüngere Carol buhlt um ihn, das Dorf klatscht, die Polizeihunde bellen bedrohlich draussen. Und die Vergangenheit gibt Grauenhaftes frei: Ehemann Jabe, der misstrauisch seinen Laden kontrolliert, sagt ihr ins Gesicht, dass er mit anderen den Weingarten ihres Vaters angezündet hatte.
Diese Lady nun spielt Chantal Le Moign mit einigem Einsatz als burschikose Lebenskämpferin, die unbeirrbar ihren Laden in Schwung hält und auch mal die Whisky-Flasche pur an die Lippen setzt. Die haut nichts vom Schlitten. Liebesregungen bringen sie wohl in Verlegenheit, beflügeln sie aber nicht weiter. Da steigt nie eine Unbekannte aus ihr hervor. Mit ihr kann Regisseurin Klepper jedoch die Geschichte griffig und flott durch erzählen: bei Klepper eine bittere Komödie mit einkalkulierten Lachern und mit blutigem bösem Ende. Die Ensembleszenen sind auf den Witz zugespitzt, gelegentlich bis über die Karikaturengrenze. Weniger spannungsvoll sind aber eben die wesentlichen Duettszenen zwischen der Lady und Valentine, wo wir die spezifischen Vibrationen in der Welt der beiden Ausgestossenen erleben sollten.
Die romantische Geschichte um Menschen, die wegen ihrer Träume scheitern, saftig zu bebildern, darum scheint es der Regisseurin gegangen zu sein. Breite Streicherklänge ähnlich der Filmmusik der vierziger Jahre führen uns jeweils in die nächste Szene. Selten sieht man so stimmungsvoll ausgeleuchtete Bühnennächte. Der ursprüngliche verzauberte Trödlerladen wurde in ein kühles, neonbeleuchtetes Bürointerieur mit Spanplattenmöbeln und herumstehenden Kartonkisten übersetzt. Die Südstaaten und die Epoche spielen nur mehr eine untergeordnete Rolle. Aber die hässliche Kälte der Realität treibt zu Träumen an: Letztere werden von blinkenden Glücksspielautomaten an der leeren, grauen Wand geradezu symbolhaft karikiert.
Das volle Auditorium folgte mit hörbarer Aufmerksamkeit der Geschichte, die die Regisseurin mit klarem Strich durchführte. Das Ensemble spielte engagiert und mit Lust. Die Kleine Bühne ist für diese Aufführung ein Glücksfall: Man sitzt quasi mitten im Geschehen.
19. September 2010