Theater Basel, Schauspielhaus
Deutschsprachige Erstaufführung
"Waisen"
Autor: Dennis Kelly
Regie: Elias Perrig
Bühne und Kostüme: Wolf Gutjahr
Mit Katka Kurze, Florian Müller-Morungen, Peter Schröder
Der blutige Araber
Wer erregendes Theater will, das den Zustand unserer Gesellschaft hinterfragt, der muss sich dieses Stück im Schauspielhaus ansehen. Zwei Stunden lang kann man nur staunen, wie der englische Dramatiker Dennis Kelly anhand eines simplen und abstrusen Vorfalles ganz logisch nachvollziehbar darstellt, wie hinfällig das Wertefundament des linksliberalen Europa geworden ist. Aus dem Staunen kann leicht Übelkeit und Entsetzen werden.
Und dies darf man hier in der Live-Direktheit erleben, die das Schauspiel-Theater exklusiv auszeichnet. Denn Regisseur Perrig stellt das Kammerstück, hart, wie es ist, wie eine vibrierende Skulptur in den Raum: Da kommt keiner drum rum. Das kann er nur dank dem hohen darstellerischen Niveau von Kurze, Schröder und vor allem Müller-Morungen: So eine Qualität hat Basel in den letzten Jahren sehr selten gesehen.
Zu alledem ist das Stück ein clever gebauter Thriller, der gleich mit der Schrecksekunde einsetzt, als Liam (Müller-Morungen) blutüberströmt in der Stube steht. Das passt nicht. Seine Schwester Helen und ihr Mann Danny sind gerade beim Nachtessen: Weisswein, Basmati-Reis. Die Doppelverdiener haben es zu etwas gebracht. Liam passt da nicht rein. Knallweiss sind Wände und Designerstühle, sie sitzen in Designerkleidern am rosengeschmückten Tisch. Liam hingegen stammelt los von einem Verletzten, der bewusstlos auf der Strasse gelegen habe. Den er in die Arme genommen habe. Dem er habe helfen wollen. Aber auch diese Geschichte passt nicht. Denn zugeschlagen hat in Wahrheit er selber. Und weit schlimmer!
Aber bis alles herauskommt, reizt Kelly punktgenau die Sensibilitäten der verbürgerlichten Intellektuellenkaste: Helen und Danny biegen und winden sich in Unsicherheit, der einzige Halt gibt ihnen die political correctness. Statt Liam zu stellen, was denn genau passiert sei, wehrt Helen zunächst mal jede klare Frage von Danny ab. Das klinge zu sehr nach Verhör. Danny kann sich nicht einmal damit durchsetzen, die Sanität für den Verletzten zu verständigen. Liam palavert, getrieben von Unruhe und Unsicherheit, verlogene Nettigkeiten und geisttötende Nichtigkeiten, mit denen er sich als patenten Kerl inszeniert. Statt ihn zu stoppen, lässt ihn Danny mit verzogenem Mund gewähren, ja er biedert sich sogar mit Worten wie "Scheisse" bei ihm an. Und im Streit empfindet Helen auf einmal "Unsicherheit", ob die Beziehung zu Danny überhaupt ihren "Erwartungen" entspreche, und ob sie das Kind in ihrem Bauch nicht abtreiben wolle.
Nebenbei enthüllt Liam auch seine Freundschaft zu Ian, den er zwar als "Arschloch" bezeichnet, dessen Sammlung von SS-Pistolen, Snuff-Filmen und Zyklon-B-Behältern ihn aber masslos fasziniert. Klar, Liam ist der innerlich verwahrloste Prolo, aber die beiden anderen haben ihm nichts entgegenzusetzen. Und Helen enthüllt in ihrer Hysterie, sie wolle in eine andere Wohngegend ziehen, wegen "der Leute" und "der Gewalt", auch nichts weniger als panischen Ausländerhass.
Aber Kelly legt noch weiter zu: Als klar ist, dass Liam den Araber nicht bloss aus Notwehr geschlagen, sondern angegriffen und sogar gefesselt und schwer gefoltert hatte, wird noch immer nicht die Polizei eingeschaltet. Nein, Helen zwingt Danny dazu, Liams Opfer mit Todesdrohungen mundtot zu machen. Denn jetzt müsse die "Familie zusammenhalten". Und Danny tut es ...
Obgleich hier sehr direkt die Schnittstelle zum Nazi in uns intellektuellen Normalbürgern ausgelotet wird, fehlt dem Stück alles Modelhafte oder gar Besserwisserische. Und obwohl Kelly nur naturalistisch Alltagssätze sprechen lässt, gelingt ihm das Kunststück, die unzähligen Worthülsen in den Reden so deutlich herauszustellen und vom Rest abzusetzen, dass die implizite Lüge darin schmerzhaft spürbar wird.
Wenn Müller-Morungen als Liam etwa sagt, er habe "geheult wie ein Schlosshund", fühlen wir nur die abgrundtiefe Armseligkeit. Damit das funktioniert, braucht es mehr als spröde Präzision, sondern ein gewisses Übermass in der darstellerischen Ausgestaltung. Perrig und das Ensemble wagten es, alles einen Zacken grösser und sprachlich prägnanter auszuspielen als üblich heutzutage. Und mit grösstem Gewinn! Die Spannung zwischen den Figuren kam so sehr über die Rampe, dass das vollbesetzte Schauspielhaus atemlos dem Geschehen folgte.
Gerade Müller-Morungen legt die Abgründe seiner Figur so präzise frei, dass es einem unheimlich wird, weil man solche Sätze in genau diesen Klängen auch schon im Trämli gehört hat. Dabei schafft er es, seinen Liam niemals in eine Karikatur abrutschen zu lassen.
Stück und Aufführung sorgten aber nicht im ganzen Publikum für das am Ende übliche allgemeine Wohlbefinden: Der Applaus wirkte kräftig, aber auch irritiert. Und das ist ja gut so.
23. Oktober 2010
"Nichts an diesem Dramas ist 'linksliberal'"
Diese Besprechung von Kellys "Waisen" setzt gelegentlich die Schablone "Entlarvung der Verlogenheit des Bürgertums" an, eine altbewährte Methode beim Abarbeiten von Theater, und updatet dieses Bürgertum zum "linksliberalen".
Wie das? Nichts am Szenario dieses Dramas ist "linksliberal", es ist einfach nur modern gutbürgerlich. Tatsächlich werden hier sozialer Aufstieg und familieninternes Machtgefüge sowie Clanbewusstsein thematisiert:
- die Schwester hat's ins Bürgertum geschafft, der gestörte Bruder bleibt in der Unterschicht hängen.
- Danny will "kein Feigling" sein und wagt es daher nicht, die Teilnahme an der Vertuschung und Vollendung der Gewalttat zu verweigern, weil es um die Verteidigung der Familie geht und ihn Helen deswegen unter Druck setzt. Erst als sich herausstellt, dass das Opfer kein Feind der Familie (sondern selber Familienvater) ist, wird der missratene Bruder aus der Sippe verstossen.
(Oder ist es schon "linksliberal" und "politically correct", wenn das "Arabertum" des Opfers als Rechtfertigung für seine Misshandlung nicht ausreicht?)
Lauter archaische, allgemein menschliche Probleme. Niemand hier ist besonders "intellektuell".
Gutbürgerliche "Heile Welt" versus brutale gesellschaftliche Realität, ok, aber woher die Annahme, das moderne bürgerliche Europa sei zwangsläufig "linksliberal"? Das erinnert ein bisschen an das gängige "linksliberale Intellektuellen"-Bashing, welches ja unterstellt, dass die "Linksliberalen" seit Jahrzehnten angeblich die öffentliche Meinung monopolisieren, während diese in Wirklichkeit während derselben Zeit kontinuierlich nach rechts gedriftet ist und mittlerweile eine beispiellose Konzentration von Medienmacht in der sogenannten "Mitte" und in rechtsbürgerlicher Hand stattfindet.
Martin Werner, Basel