Theater Basel, Kleine Bühne Uraufführung
Autorin: Anne Haug Inszenierung: Sahar Rahimi Bühne und Kostüm: Evi Bauer Musikerin: Franziska Ameli Schuster Licht: Stefan Erny, Roland Heid Dramaturgie: Kris Merken
Mit Edga Eckert, Marie Löcker, Yevgenia Korolov
Mädchen: Magdalena Radivojevic, Lorin Senpinar, Johanna Landtwing Der gärende Nudelauflauf des AlltäglichenDer feuchtheisse Sommer hat den Publikumsandrang zur Premiere ausgedünnt. Ein nebliger, dunkler Novemberabend hätte eh besser zur Geisterbahn gepasst, auf die uns Regisseurin Sahar Rahimi mitnimmt. Der Horror beginnt, wie in den Genrefilmen üblich, mit Details, die Verdrängtes anmahnen, die zur aufgeputzten, heilen Welt nicht passen. Hier ist das zu Beginn ein Schlussapplaus an einem kleinstädtischen Charity-Wettbewerb. Es wird geknipst, geklatscht, gestrahlt.
Die drei kleinen Mädchen vor einer geblümten Fotowand stecken in den praktisch identischen, blauen Kleidchen wie die Schwestern im Kubrick-Film "The Shining". Die Krönchen und das Happy-Lächeln, das die Mutter auch mal an den Mundwinkeln ziehend nach oben korrigiert, können über das Leiden nicht hinwegtäuschen; minutenlang die Beine in Ballett-Auswärtsdrehung und die Arme oben im Halbrund, das ist halt schmerzhaft. Aber die Mädchen bewahren tapfer Haltung. Und Mutti trägt einen roten Verband am Handgelenk. Haltung auch im Unglück, ein bestimmendes Motiv des Abends.
Als die Fotowand hochgeht, wird der Blick auf ein erstickend-wuchtiges Schlafzimmer-Interieur freigegeben. Selbst einem David Lynch wäre das für seine Filme zu explizit unheilverkündend: Umgeben von schwarzem Stoff ein düster beleuchtetes Riesenbett, überfüllt mit grossen, supersüssen Stoffpuppen, daran angelehnt die Mädchen als Puppen mit Leuchtaugen, wie die Kinder im Film "Das Dorf der Verdammten".
Davor stellt sich hochgemut die Familie auf, Mami Tamara (Hausfrau), Mädchen, Papi Dominik (Augenarzt): Tamara präsentiert den täglichen, dampfenden Nudelauflauf. Dazu gibt es Dialog-Stereotypen ("Wie war dein Tag?", "Es sind Schinkenstückchen drin!") – immer alles frontal ins Publikum, denn die Leute reden nicht miteinander, sie stellen ein gehobenes Mittelstands-Glück aus. Bei einer späteren Wiederholung der Szene sagt Tamara, ihre Finger seien drin. Dominik irritiert: "Da reden wir wochenlang kaum ein Wort und plötzlich machst du einen Witz.»
Mit kurzen Einschüben aus Stroboblitzen und düsteren Trampelsounds, ähnlich den jump-scares in Horrorfilmen, in denen schockartig das Monster angekündigt wird, hüpfen wir von Szene zu Szene. Das Grauen kommt beim Alleinsein. Der Mutter läuft Blut aus dem Mund, sie schleckt es gierig wieder ein. Blut läuft auch aus einer Steckdose, der Vater wischt es panisch mit seinem teuren Pulli auf. Ab da ist das "Monster" bereits in die abgeschottete Welt eingedrungen. Kat in Lederkluft, hochschwanger mit entblösstem Bauch, ehemalige Liebhaberin von Tamara und auch Dominik, sprengt erst den Kindergeburtstag als Clown, dann die elterliche Zweierkiste.
Tamara weidet eine Kinderpuppe aus, reisst ihr die Gedärme heraus, leckt am Herzen und gibt sich dann wütend dem Sex mit Kat hin. Dominik geht hasserfüllt auf Kat los, würgt sie, ergeht sich später in einem weinerlichen Wutausbruch. Das sei sein Haus, seine Frau, sein Leben. Kat nimmt auf alles Anspruch. Sie kriegt auch alles, weil Tamara und Dominik längst ihr Leben hassen.
Mit den übertriebenen Horrorfantasien und den dick aufgetragenen Klischees hätte man sich auch eine schrille Groteske über den gärenden Nudelauflauf des Alltäglichen vorstellen können. Aber das Stück besteht wesentlich daraus, ernsthaft bürgerliche Eingespurtheit und Rollenverständnisse zu zelebrieren, etwa auch die Unfähigkeit Dominiks, aus seinen Rollenvorstellungen auszutreten. Letzteres wird jedoch zu wenig konsequent durchgeführt. Für die intimen Momente im Stück ist Rahimis virtuos bespielte Theatermaschine zu effektvoll, sie wirkt zu fantastisch.
Die melancholischen Songs, der ausgefeilte Soundtrack der Live-Musikerin Franziska Ameli Schuster erfüllen die Bühne mit Sentiment. Eine Entdeckung ist auch Edgar Eckert als Dominik, der die Ambivalenz zwischen ernstem, gutem Willen und Abgründen und Hilflosigkeit auch ohne äusserliche Regung spürbar macht.
Bleibt noch die Frage, was der Titel meint, der Begriff "MILF" (Mother I'd Like to Fuck), der als Porno-Genre mit Darstellerinnen mittleren Alters berühmt wurde. Unklar. Das Wort kommt nicht vor. Der sexualisierte Blick wird nicht konkret, das heisst nur im Gesamtzusammenhang mit den traditionellen Rollenklischees thematisiert. 22. Mai 2022
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