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Theater Basel, Grosse Bühne Uraufführung
"Die Mühle von Saint Pain"
Schauspieloper von Anne und Lucien Haug, nach Motiven der Krabat-Sage
Inszenierung: Antú Romero Nunes Musikalische Leitung: Thomas Wise Komposition, Songwriting: Anna Bauer Bühne: Matthias Koch Kostüm: Victoria Beher/Julia Brülisauer Lichtdesign: Roland Edrich Dramaturgie: Michael Gmaj/Kris Merken
Mit Hilke Altefrohne, Elmira Bahrami, Jan Bluthardt. Barbara Colceriu, Edgar Eckert, Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Gala Othero Winter
Chor des Theater Basel, Basel Sinfonietta
Combo: Jens Bracher, Ruben Mattia Santorsa, Josep-Oriol Miro Cogul, Irina-Kalina Goudeva Der heilige Schmerz im FamilienlebenFrenetischer Applaus nach zweieinhalb Stunden für ein Moritatenmärchentraum-psychodramasingspiel, das alle Register zieht: Tote kehren ins Leben zurück (nur Vorstellung oder höhere Realität?), ein Riesenteddy bumst einen Stoffleoparden (Symbol für einen Kindsmissbrauch?), das Mädchen Krabat schiesst sich in den Mund (war die nicht schon anfangs tot?), eine Mühle brennt nieder (Brandstiftung, wenn ja, wer war's?) und zwischendurch werden wir noch von Mahlers berühmtem Adagietto aus der fünften Sinfonie weichgekocht. Ein Kuddelmuddel? Fürwahr! Aber ein unterhaltsames, aufgeladen mit und getragen von sehr viel Sentiment.
Aus der sorbischen Krabat-Sage hatten die Geschwister Anne und Lucien Haug ein tragisches Familiendrama aus Schuld, dramatischem Enthüllungs-Auskotz unter Geschwistern und blutigem Showdown verfasst. Leitmotiv: Die Familie ist ein Stern, der sich selber frisst und am Ende kollabiert. Die Mühle von Saint Pain (heiliger Schmerz) ist als Symbol für das schöpferische und gleichzeitig zerstörerische Mahlwerk im Familienleben gesetzt.
Bodenfeste Realität gibt es wahrscheinlich nur im ersten Akt. Simon, Judith, Ruben treffen sich nach 20 Jahren erstmals wieder zur Beerdigung ihrer Schwester Krabat. Aber ihre Konflikte sind über die lange Zeit ganz frisch geblieben. Der weiche, religiöse Simon, für den seine Therapeutinnen-Ehefrau Teresa präventiv das Schnupftuch bereithält, die hart-nüchterne Bezirksrichterin Judith und Alleinerzieherin einer Gamer-Göre, der Musiker und sinnliche Hallodrio Ruben schliesslich, der gleich seine ganze Band aus Südamerika angeschleppt hat: Die Gereiztheit und die Abstossung sind mit Händen zu greifen.
Aber als plötzlich die tote Krabat quicklebendig auftritt und Judiths Tochter hinter den kühlen Plastikvorhang (der Aktualität) entführt, sich die damalige, familiäre Mühle, deutlich als Kulisse stilisiert, dahinter enthüllt, tauchen wir ein in ein opulentes Märchentraumsingspiel, das die Erinnerung an diesen Abend prägen wird. In warmes Madonnen-Licht gehüllt erscheint wie von einem anderen Stern Krabats Mutter, singt als Operndiva glockenklar eine Mozart-Arie und wäscht dabei die Kinder. Bald erobern auch Simon, Judith und Ruben spielend, schreiend, balgend, herumhüpfend die Stätte ihrer Vergangenheit, oder mehr: ihrer Erinnerung.
Hinter der Mühle leuchtet ein Galaxienhaufen, neben ihr stürzt ein gemalter Gebirgsbach herunter. Aus dem Mühlenboden, dem Orchestergraben toben die Schreckensklänge aus Schostakowitschs Kammersinfonie 110a, die eine tragische Wende anmahnen. Wenn die Mutter mit einem Miserere Allegris den eigenen Tod an Rubens Geburt besingt, kommentiert Krabat mit schwülstiger Lyrik "Da stiess er einen Schrei wie aus den Tiefen eines brodelnden Vulkans hervor und Mamma starb in Vaters Arm". Die Bühne ist bis in die Ecken ohne Atemlassen mit Emotion gefüllt. Wohl ist damit die schier grenzenlose Erlebnisfähigkeit eines Kindes gemeint, aber die Aufführung gerät zuweilen in die Nähe des Kitschs – trotz der hochqualitativen Kompositionen und nicht nur wegen der weichen Popliedchen: Ein Wille zur Überinszenierung dringt immer wieder mal durch.
Nunes inszeniert nämlich, und dies durchaus virtuos, dass man immer gleichzeitig staunen, weinen und lachen soll. Er erzählt eine symbolschwere Sage und gleichzeitig eine Kindheitserinnerung, die er mit Elementen wie dem erwähnten Riesenteddy psychologisiert. Dazu denunziert er die Geschichte als kindliche Trug-Erinnerungen und streut profanisierende Gags ein. Die verschiedenen Realitätsebenen lässt er wie im Märchen nebeneinander bestehen und löst das Familiendrama in Minne auf, es gebe halt Liebe und Hass in jeder Familie. Da fehlen nicht nur Standort und Linie, sondern auch eine Haltung.
Gleichwohl folgt man über weite Strecken gebannt den nahtlos aneinandergereihten Szenen. Besonders die straffe Ausstrahlungskraft von Gala Othero Winter als hyperaktive Krabat und die Virtuosität und Agilität von Jan Bluthardt als Simon ziehen die ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Der Wirkung der klassischen Kompositionen kann man sich nicht entziehen. 23. Oktober 2021
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