Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Ulysses"
Nach dem Roman von James Joyce
Bühnenfassung von Scott Shepherd und Team
Inszenierung: John Collins
Bühne und Kostüm: David Zinn
Sound-Design: Ben Williams
Lichtdesign: Vassilios Chassapakis
Dramaturgie: Scott Shepherd, Angela Osthoff
Mit Andrea Bettini, Carina Braunschmidt, Fabian Dämmich, Nairi Hadodo, Fabian Krüger
Mit Molly am Küchentisch
Es ist derzeit Mode am Theater Basel, die Inszenierungen grosser und dicker Klassiker aussen anzuschreiben: "Metamorphosen" von Ovid, "Odyssee" von Homer, "Moby Dick" von Melville, letzten Samstag "Verlorene Illusionen" von Balzac. Oft hiess das: ein paar herausgerissene Kernszenen, mit denen dann auf der Bühne mehr oder weniger geistreiche Spässe getrieben werden, plus ein paar Einschübe von Reflexion.
Und nun gar "Ulysses" von James Joyce: "Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingesteckt, dass es die Professoren Jahrhunderte lang in Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe", wird der Autor gleich anfangs zitiert. Der Roman ist eine moderne Umsetzung von Homers "Odyssee". Ein Tag im Leben des Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom im Dublin von 1904 wird erzählt – auf tausend Seiten, mit hunderten Personen und zig Verweisen auf philosophische Werke oder auf bedeutungsreiche Stellen in der Weltliteratur (Bibel, Shakespeare etc.). Die Lektüre bedeutet Arbeit: Gedankenfetzen und -sprünge, traumartige Erinnerungen, Halluzinationen, Passagen in Altenglisch.
Aber der New Yorker Regisseur John Collins erschlägt uns nicht mit Bildungsballast, traktiert uns nicht mit exegetischer Analyse und distanzierenden Randbemerkungen. Im Gegenteil, seine hundert Theater-Minuten sind federleicht, er spannt ein stets durchsichtiges Gewebe aus Szenen, Lesung, Geräuschen, weit entfernter Musik. Er sagt uns nicht: versteht alles, sondern, lasst alles auf Euch wirken.
Collins Inszenierung ist eine liebevolle Annäherung an das Werk. Der Ausgangspunkt ist programmatisch: eine Art Sprachwerkstatt. David Zinn hat Collins' Proberaum in New York nachgebaut und die Bühne mit Bibliothekarstischen unterteilt. Nach einem Stimmenteppich ab Band beginnt die fünfköpfige Truppe mit der Lesung. Bald erhebt sie sich von ihren Sesseln, lässt die übrigens handelsüblichen Ausgaben des Wälzers liegen, spielt anfangs behutsam, dann immer derber, intensiver Szenenausschnitte.
Die Bibliothekarstische werden zum Schauplatz einer peinlichen Eheszene, zur Druckerei, in der Papiere umherfliegen und die Maschine rättert, bald zur Kutsche, die zu einer Beerdigung fährt, in der bestürzt über den plötzlichen Tod eines Mitbürgers geredet wird. Oder zur Tram, in der sich Bloom in einem inneren Monolog geilen Erörterungen hingibt, und dabei immer wieder von einem Bekannten unterbrochen und vollgeschwatzt wird – gekonnt inszeniert mit ein- und ausschaltendem Aussenton das Erlebnis Blooms imitierend.
Immer wieder "spult" Collins vor: Mit Bandgeräusch und nach unten flirrendem, quer über die Bühne gebeamtem Buchstabensalat hüpft er zur nächsten Szene, die Figuren hampeln in stummfilmartiger Übergeschwindigkeit. Nach einer Weile wirkt es wie eine Marotte. Aber das Bewusstsein bleibt frisch, dass wir uns in einem Buch befinden, das noch viel mehr enthält. Den running gag bildet das Band in dem Panorama des Lebens, das Joyce mit seiner Aussenseiter-Figur Bloom vor uns ausbreitet. So besucht er eine Entbindungsklinik (Leben), ein Bordell (Sex), die erwähnte Beerdigung (Tod), eine Bibliothek (Literatur, nationales Erbe).
Er lässt sich als "Saujude" beschimpfen, von seiner Frau betrügen, quält sich mit Schuldgefühlen gegenüber seiner toten Mutter (eine herrlich gestaltete Horrorvision mit Carina Braunschmidt) herum und ekelt sich vor der Hinfälligkeit des Körpers oder den derben Ess-Sitten seiner Mitbürger. Man mag Collins vorhalten, dass er nichts davon inhaltlich vertieft, keine Schwerpunkte herausarbeitet, dass sein Bloom, gerade wenn ihn Andrea Bettini verkörpert, fast immer gutmütig bleibt. Aber Collins sieht in Joyce einen Humanisten, der sich seinen Regungen und den Zumutungen des Lebens ohne Wertung stellt und sich von intellektuellen Festschreibungen freihält.
Die Inszenierung ist bis ins Detail sorgfältig durchgeprobt. Die Konzentriertheit und Genauigkeit des Ensembles halten das Publikum wach. Zum Schluss führt Carina Braunschmidt den mutmasslich besten Monolog ihrer bisherigen Karriere – und bringt damit das Konzept des Abends zum Gipfel: des Gedankenstroms. Als Molly, Blooms Frau am Tisch sitzend und dauerrauchend, lässt sie durchziehen: Die Liebe zu Bloom, der Sex mit dem Andern, die Männer, die Atheisten, ihre einfachen Wahrheiten, alles auf schillernde Weise grob und zärtlich, vielleicht nicht immer ehrlich, aber authentisch. Man hat das Gefühl, bei ihr in der Küche zu sitzen, gebannt von ihrem Sog.
10. Dezember 2021
"Ein Kunstwerk in sich"
Ich habe diese Vorführung noch nicht gesehen. Nach dieser Besprechung weiss ich, dass ich Sie mit Sicherheit anschauen will. Diese Besprechung ist packend und anschaulich, ein Kunstwerk in sich. Wenn die geschilderte Inszenierung auch nur halb so gut ist, wie diese Rezension, wird sie ein unvergessliches Erlebnis sein.
Martin Neidhart, Basel