![]() Theater Basel, Grosse Bühne Uraufführung
Regie: Christoph Marthaler Bühne: Duri Bischoff Kostüme: Sara Kittelmann Musikalische Leitung/Klavier, Keyboards: Bendix Dethleffsen Licht: Thomas Kleinstück Ton: Jan Fitschen, Robert Hermann Dramaturgie: Malte Ubenauf, Inga Schonlau
Mit Liliana Benini, Carina Braunschmidt, Raphael Clamer, Barbara Colceriu, Jean-Pierre Cornu, Bendix Dethleffsen, Vera Flück, Martin Hug, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Annika Meier, Nikola Weisse Schweinegrunzen aus dem VogelkäfigGross waren die Erwartungen: Nach sieben Jahren erstmals wieder eine Inszenierung des Publikumslieblings am Theater Basel, der hier in den achtziger Jahren seine internationale Karriere startete. Christoph Marthaler wende sich erstmals dem beliebten Gerne Krimi zu, hiess es. Dazu wurde "Der letzte Pfiff" mit einer Reihe von Leuten wie Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Nikola Weisse etc. besetzt, die in der Marthaler-Komik seit vielen Jahren trainiert sind.
Vielversprechend das Bühnenbild: Ein verwinkeltes Würstchenbuden-Quartier mit anspielungsreichen Namen wie "Hot fried Woelki Dog" oder "Stolzing’s Kaldaunen" – was man auf Joseph Stolzing, Redakteur von Hitlers "Mein Kampf", beziehen kann oder auf den Helden der Wagner Oper "Meistersinger". Eine riesige Ketchup-Flasche mit der Aufschrift "Wotan" hängt ins Bild.
In die ungefiltert weiss beleuchtete Tristesse mit unappetitlichen Speisenbildern an den Buden schiebt Bendix Dethleffsen ein Klavier, um inbrünstig die Ouvertüre von Suppés "Bauer und Dichter" zu schmettern. "Ein Welterfolg", liest das Publikum ab Rollband, aber der Komponist habe sich ein Leben lang gegrämt, weil er das Werk in einer schwachen Minute für vier Franken verkauft habe.
Die ersten Kenner-Lacher, der Marthaler-Dreh sitzt: Weltprominenz und Jämmerlichkeit in einem Satz. Weitere Meisterstückchen folgen. Ueli Jäggi mit zerknautschtem Gesicht raunzt "Chlöpfer!" in die erstbeste Bude. Aber statt die Schweizer Nationalwurst kriegt er vom beleidigten Budenwirt (Raphael Clamer, herrlich als Berufsgriesgram) runtersausende Rolladen serviert – ein running gag, den Marthaler mit Variationen frischhält. Kirchenglocken läuten: Ein Priester (Jean-Pierre Cornu ähnelt Kardinal Woelki verblüffend) schreitet in triumphaler Eitelkeit einher, und über ihm schwebt die Riesenketchup-Flasche wie der Heilige Geist – schallendes Gelächter, und man stellt sich dabei den grausigen Anblick vor, wenn sich die Flasche öffnete.
Heftig blinzelnd tritt mit elegantem Schritt Liliana Bellini im Designer-Chic an die Rampe, greift sich unvermittelt ans Herz, an den Kopf, um gleich mehrere, höchstdramatische Tode – einmal sogar mit sportivem Überschlag – hintereinander zu sterben. Später wird sie den umstehenden Beamten ihre Mörder nennen, deren Adresse plus Tatzeit – aber auf italienisch! Die Ermittler stumpfsinnig: Sie verstünden das nicht, hätten keine Hinweise, da könne man nichts machen etc., ziehen tatenlos ab.
Jürg Kienbergers Glanznummer als staubtrockener Polizist Herbert: Erregt esse er immer wieder heisse Würstchen, obwohl sie ihm gar nicht schmeckten, nur um Christel von der Bude sehen zu können. Das heisst, er sehe aus Respekt nur die Senfgurke an. Wie er bieder-beschränkt von seiner Liebe als "Knall der Wonne" spricht, ist ebenso lustig wie tieftraurig.
Traurig ist der Abend in mehrfacher Hinsicht. Immer wieder hören wir die Frage: Schneit es immer noch? Ja, es schneit und schneit. Forciert grinsend fabuliert das Ensemble über die grüne, graue, weisse, rosa Traurigkeit, und was alles – Feuchttüchlein, Tintenfische, Kaugummi – mit der jeweiligen Farbe zusammenhänge. Traurig wirkt auch diese gänzlich disparate Gesellschaft aus vereinzelten, untereinander beziehungslosen Figuren; in einer fulminanten Szene drängen sie sich voller Entsetzen gegenseitig einen Vogelkäfig auf, aus dem panisches Schweinegrunzen ertönt.
Da sind die typischen Marthaler-Ingredienzien, Sotto-Voce-Chörchen, hintersinnig-absurde Gedichte, Songs, Monologe, gewohnt liebevoll gestaltet. Aber mit der Zeit schleicht sich das Gefühl ein, einer Nummern-Revue beizuwohnen, die ausser versiert inszenierte Übergänge wenig zusammenhält. Wollte der Meister nihilistisch seine Kunst entblössen?
Die Antwort liegt eher bei den Produktionsbedingungen. Nur die erste Probe fand in Vollbesetzung statt. Das Coronavirus erwischte fast alle Mitwirkenden: Gelegentlich waren nur fünf der elf Ensemblemitglieder einsatzfähig. So gelang es nicht, die Fäden zu einem Gewebe zu verknüpfen, ja die Anlage auszuführen. Gezeigt wurden Fragmente. Das Publikum wurde darüber im Programmheft informiert.
Man mag den Entscheid der Theaterleitung kritisieren, am Premierentermin festzuhalten. Das Virus hatte zuvor für massive Publikumseinbrüche gesorgt. Auf die zunehmend längliche Aufführung (zwei Stunden) reagierte ein Teil des Premiere-Publikums ungeduldig und verliess ab Beginn des Applauses das Auditorium. Das ist unanständig und wird der künstlerischen Leistung, die unter schwierigen Bedingungen erarbeitet wurde, nicht gerecht. 9. April 2022
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