Reiz und Reaktion, aber keine Reflexion
Mit einem Buch ist heute kaum ein Staat zu machen. Das Buch hat keine Lobby, keine Öffentlichkeit, jedenfalls keine grosse. Sich mit einem Buch zurückzuziehen heisst, sich in die Einsamkeit begeben, wo man nicht wahrgenommen wird, während die öffentliche Wahrnehmung heute alles ist, was zählt (statt schreibt). Dafür ist die Wahl, ein Buch zu lesen, ein persönlicher Entscheid für einen bestimmten Lebensstil. Wer sich Zeit nimmt für ein Buch, nimmt sich Zeit für sein Leben. Ich lese, also bin ich. Bücher verhelfen zu einem exklusiven Status. Wer liest, lässt sich vom geschäftigen Treiben nicht stören und ist unerreichbar, wenigstens vorübergehend. Das ist eine Form von Luxus.
Der Umgang mit Büchern entspricht einer alten Kulturtechnik, aber auch diese wie alle anderen ändern sich. Neue Techniken und Formen der Kommunikation entstehen, auch solche, die wunderbar sind, wenn man sie intelligent nutzt. Der deutsche Psychologe Peter Kruse hat kürzlich das Internet (das hier gemeint ist) als "Kulturraum" bezeichnet. Internet und andere Netzwerke bilden einen Kommunikations- und einen Informationsraum, der zweifellos tiefgreifend auf die Gesellschaft eingewirkt hat. Aber Kultur ist etwas anderes. Nur die konsequente Arbeit an der Sprache und am Begriff verdient diese Bezeichnung.
In jüngster Zeit wird vermehrt versucht, das Lesen, vor allem von Büchern, mit Kriterien der Neurologie zu erklären. Was geschieht im Gehirn beim Lesen? Offenbar fördert es in massgeblicher Weise die neurologische Organisation, so dass die Welt in einer bestimmten Weise verstanden wird. Das ist ein langer diskursiver Prozess. Auf den Punkt gebracht: Wer liest, denkt anders, mehr, vielleicht besser. Es kommt darauf an, Zusammenhänge zu begreifen, einen Gedanken mit einem anderen zu verbinden, Schlussfolgerungen zu ziehen, so dass man sagen kann, dass das Denken beim Lesen arbeitet und man am Ende "seinem Weltbild sprachlich gewachsen" ist, wie Gottfried Benn dies ausgedrückt hat. Alles andere ist ein Fuhrwerken mit der allgemeinen Stange im allgemeinen Nebel.
Lesen stellt eine Verbindung zur Welt her. Das tun die Informations- und Kommunikationsmaschinen auch, nur mit dem Unterschied, dass sie wahllos Bruchstücke verabreichen, ohne sie in eine sinnvolle Ordnung des Ganzen zu stellen. Solange das der Fall ist, sind sie nur Spielzeuge. Man sollte auch nicht vergessen, dass Jean Baudrillard den medialen Raum als eine Simulation definiert hat, der Hyperrealität erzeugt, also Scheinrealität. Gleiches gilt für die visuelle Information.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass das diskursive, schrittweise vorgehende Denken durch ein assoziatives, vernetzendes Vorgehen ersetzt wird, was unter Umständen in einer veränderten Welt unumgänglich wird. Zum Beispiel, wenn es auf ein Weltbild nicht mehr ankommt, sondern nur noch auf ein schnelles gezieltes Reagierenkönnen, weil die Maschinen dieses Verhalten verlangen, das sie selbst geschaffen haben. Nämlich deshalb, weil sie Appelle aussenden, Anstösse verteilen, Impulse verbreiten wie Stromstösse.
Die Zeiten werden nervöser. Das wissen wir. Wie wir damit umgehen, davon wird alles abhängen. Die Menschen sind in Dauer-Hochspannung. Reiz und Reaktion treffen im selben Moment ein, für Reflexion und Differenzierung bleibt keine Zeit. Man könnte fast an Menschen im Dschungel denken, die von hundert Gefahren umgeben sind. Oder wie Soldaten im Krieg.
4. Januar 2010
"Auch Zukunft ein lohnender Ausweg"
Gerne schliesse ich mich Herrn Schmidts Gedanken an und bekenne mich zugleich als Leser von Büchern. Und zwar von Büchern der konventionellen Art, also in gedruckter und gebundener Form. Bücher, die sich überall hin mitnehmen und in jeder Ecke lesen lassen. Ecken, in denen sich auch nachdenken, sinnieren lässt. Ergänzen möchte Herrn Schmidts Beitrag mit den Ausdrücken Reizüberflutung, Übersättigung, informativer Overkill. Die Wortfolge ist nicht zufällig. Das eine führt meines Erachtens zum anderen. Sich in ein Buch zu vertiefen wird bestimmt auch Zukunft ein lohnender Ausweg sein.
Peter Berlepsch, Basel