Die "Tagesschau" und ihre Schein-Information
Wenn die "Tagesschau" des Schweizer Fernsehens nicht, wie kurz vor Weihnachten geschehen, unter dem Deckmantel ihres Informationsauftrags Werbesendungen für Champagner und Prosecco ausstrahlt, oder es zu ihrer Aufgabe macht, das Weihnachts- beziehungsweise kurz nach Beginn des neuen Jahrs das Ausverkaufsgeschäft durch peinliche Umfragen bei Geschäften und Kunden ("Trotz Wirtschaftskrise ein Erfolg", "Man findet immer etwas") anzuheizen – wenn sie sich nicht damit befasst, dann mit Katastrophen aller Art.
Die Schweinegrippe war ein riesiger Hype – und ein gutes Geschäft für die Pharmaindustrie. Sollte man von einer gesteuerten Aktion sprechen? Zu einem bestimmten Zeitpunkt war allen Ernstes von bis zu zwei Millionen Erkrankten in der Schweiz die Rede. Das Fernsehen hat das Thema wochenlang repetiert und in der Art einer Generalmobilmachung im Hinblick einen lange angekündigten Ernstfall hochgespielt.
Kaum ist ein Unglück eingetreten, läuft das mediale Geschäft an. Wo die Schwerpunkte und Prioritäten liegen, ist selten eine Frage. Je länger, desto mehr werden die Nachrichten emotionalisiert, als liesse sich Aufmerksamkeit nur auf diese Art und Weise mobilisieren. Dazu eignen sich Katastrophen, Epidemien und Anschläge ungleich besser als Probleme wie die zunehmende weltweite Wasserknappheit oder die Agrotreibstoffe. Je mehr jedoch auf Emotionen gesetzt wird, desto schneller flaut das Interesse wieder ab und muss ein neues Thema initialisiert werden. Denn Information ist nicht nur Business, sondern hat auch Event-Charakter.
Das Lawinenunglück im Diemtigtal zum Beispiel. Ich spreche nicht über das Los der Betroffenen und Leidtragenden, sondern über die mediale Inszenierung. In den Mittagsnachrichten wird der Reporter vor Ort gefragt: Was wissen Sie Neues? Seine Antwort verweist auf eine Pressekonferenz später am Nachmittag. Um halb acht erklärt er: Ich war soeben an der Pressekonferenz. So wird der Eindruck vermittelt, hautnah am Geschehen teilzunehmen. Informativ ist das alles nicht, aber Schein-Nähe wird als brennende Aktualität verbreitet.
Für das Erdbeben in Haiti gilt das Gleiche. Für die arme Insel ist das ein fürchterlicher Schlag, aber auch hier meine ich die mediale Form der Information. Was können Sie uns über die Situation sagen, wird der nach Haiti entsandte Reporter von der Moderation im Studio gefragt. Sagen kann er nicht viel Anderes, als das sich ihm ein Bild der Zerstörung und des Leids präsentiert, was die Fernsehbilder auch zeigen.
Aus Australien werden Überschwemmungen gemeldet, wo sonst eher Waldbrände herrschen. In Europa schneit es, herrscht klirrende Kälte und bricht der Strassen- und Luftverkehr zusammen. Die einen Menschen sitzen auf den Flughäfen fest, die anderen in ihren Autos, und alle bangen auf Besserung. Das übt offenbar eine kathartische Wirkung aus.
Überhaupt die Meteo. Von Westen zieht eine neue Störungszone gegen unser Land. Das bedeutet, dass mit ein paar Tröpfli oder Flöckchli gerechnet werden muss und der Regenschirm zum Mass des Eingriffs in das Leben der Menschen wird.
So wird das Publikum behutsam, aber gesteuert auf den Ernstfall vorbereitet, der bestimmt schon bald angekündigt wird.
25. Januar 2010
"Es gibt noch so etwas wie Eigenverantwortung"
Die Schelte ist bekannt und nicht neu. Niemand ist gezwungen, die Tagesschau (eben eine "Schau" / Show mit Selbstdarstellern, das ist ja auch nicht neu) anzusehen, aber die meisten möchten nicht davon lassen. Man kann die Tagesschau auch kritisch angucken und sich die Informationen herauspicken, die etwas bringen. Beispiel Diemtigtal: Gut zu wissen für Touren-Fahrer, dass sich dort ein Lawinenunglück ereignet hat und dass mindestens einer der Helfer das Suchgerät nicht auf "Suche" stellen sollte. Haben wir doch was gelernt. Haiti: Ohne die Tagesschau-Bilder wäre wohl die Sammlung der Glückskette nicht halb so erfolgreich gewesen. Der überflüssige Rest der Infos: Zu einem Auge / Ohr rein zum andern raus.
Worauf ich hinaus will: Es gibt noch so etwas wie Eigenverantwortung bezüglich Selektion, Reflexion und Speicherung des Gesehenen und Gehörten. Vor dem TV / Radio und hinter der Zeitung sitzen nicht bloss nickende Schöfli. Wer sich ärgert über den Info-Schrott: Abschalten oder gar nicht erst einschalten. Seriöse Printmedien lesen, raus gehen, einen Spaziergang vom TV-Sessel weg unternehmen, über das Tagesgeschehen diskutieren mit Freunden und Bekannten oder in der Beiz.
Maya Bühler, Basel
"Die Hoffnung stirbt zuletzt"
Wirklich auf den Punkt gebracht, wie -minu schon geschrieben hat. Und mir aus dem Herzen gesprochen. Es geht nicht nur um Grosskatastrophen – und auch nicht nur um die "Tagesschau". Auch kleinere Geschehnisse werden nach dem gleichen geilen Muster aufgearbeitet. Aber leider wohl eine fast nicht umkehrbare Entwicklung. Wir sollten Wege finden, um auch wieder länger als zwei Wochen über echte Probleme zu diskutieren und dafür Lösungen zu finden – über den Rücktritt von in den Augen der Medien "Schuldigen" hinaus. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Kaspar Eigenmann, Hofstetten
"Breaking News machen uns nicht schlauer"
Aurel Schmidts interessante Kolumne knüpft inhaltlich an das nicht minder spannende Interview von Finn Canonica mit Alain de Botton an, der sich im Monatsgespräch zum Thema "Breaking News machen uns nicht schlauer" äussert. Nachzulesen in "Das Magazin", No. 3/2010, S.10.
Peter Berlepsch, Basel
"Grossartig auf den Nenner gebracht"
Das ist alles grossartig auf den Nenner gebracht! Gratuliere. Ähnliches geht mir schon lange auf den Wecker. Gottseidank hat es nun einer mal ausgesprochen und geschrieben!
-minu, Basel
"Immer mehr quotengeile Medien"
Stimmt! Aber nicht nur auf die "Tagesschau" bezogen. Unsere ganze Gesellschaft entwickelt sich zunehmend in eine emotional handelnde und empfindende, weniger "denkende", sachlich-verantwortungsbewusste Richtung. Wie auch unsere Direkte Demokratie: Volksabstimmungen verkommen zu "Meinungsumfragen mit Folgen". Argumente – und letztlich Abstimmungsresultate – sind nicht mehr der "Sache" verpflichtet, sondern einzig der Emotion.
Die Anti-Minarett-Initiative war nur das letzte Beispiel einer Entwicklung, in der Interessen von Minderheiten nicht mehr geschützt, sondern demagogisch von einer mittels visueller "Werbung" und dramatischen Phantasiebehauptungen aufgehetzten Volksmehrheit diktatorisch unterdrückt werden. Dass die "Tagesschau" dem nichts entgegen setzt, sondern im Chor der zunehmend verantwortungslosen Medien mitsingt, belegt letztlich, dass das ganze "Staatsfernsehen" (und "Staatsradio") nicht nur teuer, sondern eine absolute Zwangs-Verschwendung ist. Es würde ja für "Kultur und Information" auch nur je ein staatlicher TV- und Radiosender pro Landessprache vollkommen ausreichen, der dann nicht quotengeil handeln muss, um überleben zu können.
Peter Waldner, Basel