Theater Basel, Kleine Bühne
Uraufführung
"Die Brust von der Frau aus Chur"
Stück: Beate Fassnacht
Regie: Marie Bues
Mit Barbara Behrendt, Martin Engler, Linda Olsansky, Ursula Reiter, Katharina Schmidt, Bastian Semm, Seline Trächslin
Babyschreie im Schwarzen Loch
Vor einer Woche frappierte Beate Fassnacht das Publikum als Bühnenbildnerin von Molières "Menschenfeind"; ihre monströse Riesenkulisse mit Urwaldmotiven aus Bildern von Henri Rousseau sog das Ensemble und sein zu dünnes Spiel völlig auf. Nur dieses kapriziöse Bühnenbild wird uns davon in Erinnerung bleiben.
Nun frappierte sie das Publikum als Autorin, indem sie es mit einem kapriziösen Stück an einen monströsen Ort versetzte: Das Schwarze Loch hinter unseren Glaubensvorstellungen, ein lichtloser Schlund, wo die Vorzeichen kehren. Aussehen tut das auf der Kleinen Bühne wie eine längst absurd gewordene Party, von der aus irrationalen Gründen keiner mehr weggehen kann, und wo im Sekundentakt beziehungslos gesprochene Sätze fallen, die Erschreckendes enthüllen oder wehtun.
Die Brüste habe sie sich für den Geissenpeter aus Liebe abgeschnitten, sagt die Frau auf dem Bettsofa (Olsansky). Sie hält sich für das "Heidi", sie ist gläubig und wahnhaft. Gesund sei eben nur die Bergwelt, sie bringe ihre Wangen zum Glühen. In einer ältlichen Kunstsprache (teilweise aus dem Roman von Johanna Spyri), die den Kinderton simuliert, beschwört sie ihre hermetische Welt.
Da hinein spicken via Minitrampolin ein Polizist, Nachbarn und Freundin Clara. Die sind städtisch, ungläubig und "normal". Das "Heidi" wollte diese Besuche nicht, aber hier folgt alles Traumgesetzen, wo Unerwünschtes erst recht gross und schrill auftritt. Darum schreit auch das Kind der Nachbarn nicht bloss: es ist ein richtiges "Schreikind", das die Eltern an den Rand eines Nervenzusammenbruchs und das Publikum zum verschreckten Lachen bringt. Der Vater (Semm) will das Kind abhaben, er könne ja "ein Neues machen"; "Heidi" entführt es zum Alpöhi. Vom Berg bringt "Heidi" nicht nur Geissenmilch, sondern Eingebungen zurück. Im Furor predigt sie die Wohltat unbegrenzten Gottvertrauens, und die Ungläubigen verfallen in Weinen und Zähneklappern. Freundin Clara wollte zuvor noch ihren sterbenden Vater verfaulen lassen, jetzt setzt sie zu "Heidis" Tiraden ein seliges Lächeln auf.
Interessanterweise sind es gerade die Ungläubigen, die hier mit aus der Luft gegriffenen Überzeugungen um sich werfen, um sich Profil und Halt zu geben: Das "Heidi" sei gar nicht das Heidi, sagt die eine fest, den Geissenpeter gebe es nicht, versetzt ein anderer. Oder der Vater betont, es sei ihm sehr wichtig, dass alle hier gesehen hätte, wie wichtig ihm die "Sexualität" sei, die er und seine Frau "haben". Auch dies wird als hohle Idee demaskiert. Als beständig unter den Glaubensvorstellungen erweist sich nur der Wahn "Heidis".
Regisseurin Marie Bues wollte aus jedem Satz das Komische herausholen und das Publikum mit lustigen Einfällen überraschen. Das klappt oft, wirkt aber manchmal auch ein bisschen eifrig. Sie hat betont absurdes Theater gemacht, mit dem das Stück über Passagen wirklich irritierende Wirkung entfaltet. Ein Teil des Ensembles entwickelt aber die Rolle zu flach. So war wohl die sehr lineare Führung des "Heidi" beabsichtigt. Aber musste die Verkörperung auch so eindimensional sein? Innerhalb der Rollenkontur beweglicher waren Barbara Behrendt als Clara und Ursula Reiter als Frau Polizist.
21. September 2008
"Chargierter Schwachsinn"
Man sitzt da und fragt sich bei jedem Lacher, ob man vielleicht keinen Humor habe oder schlecht gelaunt sei. Dann, ob man garamend zu dumm ist, das Stück zu verstehen.
Die anschliessend gelesenen fünf Rezensionen, von NZZ über OnlineReports, BaZ und Landbote bis FAZ, sind sich wenigstens darüber einig, dass es sich um chargierten Schwachsinn handelt.
Zum Glück sassen keine Baselbieter SVP-Leute vor der Kleinen Bühne, die den Geldhahn zudrehen wollen. (Sonst wären sie gut verkleidet gewesen.)
Nachdem mir schon die homöopathisch inszenierte Düggelin-Lesung von Camus einen Abend verdorben hat, freut man sich ohne grosse Zuversicht auf die weiteren 12 Angebote im Schauspiel-Abo. (Ich sage extra nicht “Schauspielfreunde”, wie auf meiner Karte steht. Die Freundschaft ist für den heurigen Anfang ziemlich belastet.)
Urs Eberhardt, Basel