Oma, der kleine Peter und das Vogelheu
Die letzten zwei Jahre des Zweiten Weltkriegs sind unvergessen. Es waren die Jahre, als in der grossen, gemütlichen Wohnküche des Hauses an der Kandererstrasse beim Erasmusplatz noch Oma das Sagen hatte. Sie war eine begnadete Erzählerin, wir Kinder hingen an ihren Lippen. Doch Oma war auch eine hervorragende Köchin.
Sie und nicht Mutter bestimmte das Wochenmenu. So gab es am Montag jeweils Hörnli mit Gehacktem, am Dienstag Dampfnudeln mit Schoggicrème und Vanillesauce, am Mittwoch Blut- und Leberwurst, am Donnerstag – am Waschtag, als man die Wäsche noch in einem grossen Zuber kochen musste – Käse-, Zwiebel- und Apfelwähe, am Freitag frischen Fisch, den man damals noch rund um den Brunnen am Fischmarkt kaufen konnte, am Samstag Gemüseauflauf und am Sonntag Vogelheu.
Mit dem Vogelheu hat es eine ganz besondere Bewandtnis. In der grossen Wohnküche hing an einer Wand ein Teller mit einer Inschrift. Als Knirps konnte man das damals noch nicht entziffern, denn im Kindergarten durfte man noch mit Klötzli spielen statt Buchstaben lernen. Meine Mutter las dann vor: "Hartes Brot ist nicht hart – Kein Brot ist hart."
"Wie ist es möglich, dass der liebe Gott
die armen Kinder röstet?"
Lange Monate dachte ich darüber nach. Hartes Brot soll nicht hart sein, aber kein Brot? Wie ist das möglich? Eines Tages fragte ich Oma. Hartes Brot sei nicht hart, weil ja immer noch Brot vorhanden und somit verkleinert auch essbar sei. "Kein Brot aber", so Oma, "ist hart, weil nichts mehr zum Essen vorhanden ist, und deshalb haben viele Menschen und vor allem Kinder Hunger".
Peterli, schon damals ein aufgewecktes Bürschchen, widersprach: "Oma, ich habe doch auch jeden Tag Hunger." Nein sagte sie, das was ich hätte, sei nicht Hunger sondern Appetit. Es war eine Lektion fürs Leben.
Nie warf Oma in der Küche Lebensmittel weg, sie verwertete alles wieder. Vor allem sammelte sie altes, hartes Brot. Sie zerkleinerte es und machte daraus wunderbares Vogelheu. Die süsse Sorte wurde mit Eiern, Confiture oder frischen Früchten und etwas Zucker zubereitet. Die würzige Sorte enthielt Eier, Salz, Pfeffer, Thymian, Salbei und dergleichen oder auch hin und wieder kleinste Speckwürfeli. Köstlich. Bis auf den heutigen Tag.
Oma sprach beim Essen, da bestand sie darauf, auch ein kurzes Tischgebet. Wir Kinder mussten die Köpfe senken und die Hände falten. Oma betete: "Speise Gott, Tränke Gott, Tröste Gott alle armen Kinder, die auf der Welt sind, Amen." Dieses Gebet trieb den etwas mehr als vier Jahre alten Peterli über ein Jahr um. Wie ist es möglich, fragte ich mich damals, dass der liebe Gott die armen Kinder zunächst speist, dann tränkt, dann aber röstet?
Nach über einem Jahr endlich fragte ich meinen Vater, wie es denn komme, dass ein Gott, der die armen Kinder der Welt zunächst speist und tränkt, dann aber röstet. Ein solcher Gott könne doch nicht ein lieber Gott sein. Die Antwort des Vaters kam alsogleich in Form einer saftigen Ohrfeige. Es war übrigens die erste und letzte meiner Kindheit und Jugend.
Jahre später als ich schon erwachsen war, sagte mein Vater, er habe sich provoziert gefühlt, weil er dachte, ich nehme ihn mit "trösten – rösten" absichtlich hoch. Als Knirps habe ich aber tatsächlich immer "rösten" verstanden.
Meine Enkelin und mein Enkel haben natürlich nie Ohrfeigen bekommen. Dafür aber umso mehr köstliches Vogelheu.
30. November 2020
"Eine bewegende Geschichte"
Obwohl zehn Jahre später als Peter Achten – ebenfalls in der Josephsklinik – geboren und ein paar Kilometer nördlich von ihm aufgewachsen, trifft fast jeder Satz dieser bewegenden Geschichte auch auf mich zu, wie wohl auf viele Angehörige unserer Generation. Danke Peter Achten, ich freue mich auf Ihre nächste Kolumne.
Andreas Rüegg, Gelterkinden