Der "Gschdampfdi Jud"
in der Schweizer Armee
Vom Luftschutzbunker im Zwweiten Weltkrieg bis hin zur Grenadier-Rekrutenschule in Losone – das waren meine prägenden Jahre hin zum Journalismus rund um den Globus vornehmlich in Ländern der Dritten Welt. Schon früh begann ich Zeitungen zu lesen, ganz einfach deshalb, weil ich jeweils am Sonntagabend am Neuweilerplatz die "National-Zeitung" und die "Basler Nachrichten" für die Eltern holen musste.
Das waren noch Zeiten ohne Fernsehen, ohne Internet, und selbst das alte Dampf-Radio war damals noch nicht so auf letzte Nachrichten – oder Neudeutsch: breaking news – getrimmt. Die Zeitungen kamen damals an Werktagen dreimal heraus, am Morgen, Mittag und Abend. Die Sonntagabend-Ausgabe war die erste Ausgabe des Montag-Morgenblatts.
Zeitungen lesen lernte ich von meiner Mutter. Sie begann immer mit der letzten Seite, weil dort die neuesten Nachrichten abgedruckt waren. Noch heute lese ich Tageszeitungen von hinten nach vorne, wie einst die Mutter. Allerdings aus einem andern Grund. Sich in einer Zeitung heute vom Feuilleton, der Kultur, dem Wissen oder dem Sport auf die Frontseite vorzuarbeiten, verändert ein wenig die Weltsicht.
Mit andern Worten: Klimawandel, Corona oder Afghanistan sind zwar wichtig, aber es gibt noch andere, genauso wichtige Fakten und Entwicklungen, die zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft veranlassen.
"Armee-Psychiater – aber nicht für den
Kommandanten, sondern für Rekrut Achten."
Neben Zeitungen waren in jenen Jahren auch Bücher sehr wichtig. Autoren wie beispielshalber Weber, Camus, Fanon, Sartre, der junge Marx oder Marcuse standen ganz oben auf der Leseliste.
Das aber war gefährlich, denn im Internat Père Girard am Collège Saint Michel in Fribourg standen solche Autoren natürlich auf dem katholischen Index. Wurde man bei der Lektüre erwischt, drohte der Schulausschluss. Camus lesende Teenager zu entlarven war damals in Fribourg wichtiger als pädophile Padres aus dem Verkehr zu ziehen.
Die fünfziger Jahre waren voller Dramatik. Der Koreakrieg, der extreme Antikommunismus in den USA, die Unabhängigkeitskriege in Indonesien und Vietnam, der Ungarn-Aufstand sowie die Anti-Stalin-Rede Chruschtschows 1956 oder der Wiederaufstieg Deutschlands, an dem auch alte Nazis beteiligt waren, allen voran ein Staatssekretär im Kabinett Adenauers, der beim Verfassen der antijüdischen Nürnberger Gesetze 1937 beteiligt war.
Auch die Schweiz kopierte den extremen Antikommunismus der USA, wobei das selbsternannte Leitblatt von der Zürcher Falkenstrasse Adresse und Telephonnummer eines bekannten marxistischen Intellektuellen publizierte und ihn so quasi zum Abschuss freigab.
Am Schluss der steilen Lernkurve der fünfziger Jahre kam die Rekrutenschule. Bereits in der ersten Woche traute ich meinen Ohren nicht. Die Büchsen-Fleischkonserve wurde von allen, auch den Offizieren, ganz selbstverständlich als "Gschdampfde Jud" bezeichnet.
Ich wandte mich an den Schulkommandanten, der verwies mich an den Armee-Seelsorger. Der wiederum fragte zuerst, ob ich Jude sei, dann meinte er, ich sei einfach allzu sensibel, man sollte – wörtlich – "nicht alle Wörter auf die Goldwaage legen". Danach eine Intervention in Bern. Der Bescheid kam schnell: Armee-Psychiater. Aber nicht für den Schulkommandanten, sondern für Rekrut Achten. Auch beim Quacksalber dieselbe Antwort: Man solle nicht alles "so ernst und wörtlich" nehmen. Wie bitte?
Die Büchsenfleischkonserve wurde noch bis am Anfang der neunziger Jahre von den meisten Wehrmännern ganz selbstverständlich als "Gschdampfde Jud" bezeichnet. Reaktionen von Armeechefs, der Offiziersgesellschaft, des Verteidigungsministeriums?
Der jetzige Armeechef, Drei-Stern-General Thomas Süssli, ging zur Rekrutenschule, als "Gschdampfde Jud" noch üblich war. Wie denkt er heute darüber? Wohl gar nicht, er hat ja mit der teuren Flugzeugbeschaffung genug zu tun. Zudem gehören ja schliesslich Moral und Ethik nicht zum Anforderungsprofil hoher, höherer und höchster Offiziere, schon gar nicht eines Generals.
13. September 2021
"Heute herrscht ein ganz neuer Geist"
Der Schlusssatz "Wie denkt er (Chef der Armee, KKdt Thomas Süssli) heute darüber? Wohl gar nicht, er hat ja mit der teuren Flugzeugbeschaffung genug zu tun. Zudem gehören ja schliesslich Moral und Ethik nicht zum Anforderungsprofil hoher, höherer und höchster Offiziere, schon gar nicht eines Generals" ist falsch.
Diversity und Schutz vor Diskriminierung sind heute Thema eines Armee-Befehls sowie des Dienstreglements und werden am Armeeausbildungszentrum Luzern unterrichtet. Am 02.09.21 hat der Chef der Armee zusammen mit den Queer Officers den "Baum der Vielfalt der Schweizer Armee" im Ausbildungszentrum der Armee eingeweiht.
Als jüdischer schwuler vormaliger Angehöriger der Armee, der als Offiziersanwärter offenen Antisemitismus und als Kompaniekommandant verdeckte Homophobie erlebt hat, kann ich dem Kolumnisten Peter Achten versichern, dass heute im obersten Kader der Armee und unten bei der Truppe ein ganz neuer Geist herrscht. Im mittleren Kader mag es noch einige Ewiggestrige geben. Diese rechtfertigen aber Achtens Armeekritik nicht.
Rolf Stürm, Basel
"Diese schreckliche Bezeichnung"
Interessant, dass Peter Achten diesen Begriff aufgreift. Ich habe mich immer gewundert, dass diese schreckliche Bezeichnung für das Büchsenfleisch wie selbstverständlich verwendet wurde. Als ich mich deswegen in der Rekrutenschule (1970) an meinen Leutnant wandte, war seine Reaktion exakt gleich: "Me seit däm halt so".
Ernst Feurer, Ettingen