Verpönte Weihnachts-Lieder im Christentum
Eine Schule im sanktgallischen Wil verbannte kürzlich drei Weihnachtslieder von der Adventsfeier, die die Geburt von Jesus besingen. Zu religiös. Erstaunlich, denn eine Adventsfeier ist eh nicht ganz unchristlich, mit Verlaub, drei Lieder mehr oder weniger. Aber lassen wir das. Interessanter ist die Frage, ob es wirklich ein Problem ist, etwas zu besingen, woran nicht geglaubt wird.
Weihnachtslieder sind Tradition, die Adventszeit hat Tradition, Weihnachten ist Tradition, und zwar für alle, die hier geboren und aufgewachsen sind. Wir sind christlich geprägt, ob wir religiös sind oder nicht, konvertiert haben, oder nichts glauben. Das Christentum ist die Basis unserer Gesetze und Kultur, und im Alltag fest verankert. Ob wir wollen oder nicht.
So sangen meine jüdischen Freundinnen einst wacker mit, wenn gerade Weihnachtslieder dran waren, wir sangen im Gegenzug auf Hebräisch "Havu lanu yayin", ein Lied, das zu einem Saufgelage einlädt. Und Freude herrschte, keiner sah dies so eng, auch nicht der politisch unkorrekte Singlehrer. Generell belastend scheint es also nicht zu sein, in einem Lied etwas zu besingen, woran nicht geglaubt wird. Es tun's eh alle, Ewigi Liebi.
Für Nichtgläubige kann es bei Weihnachten um die Friedensbotschaft gehen. Die Weihnachtsgeschichte steht als Symbol für diese Botschaft, sie ist eine Geschichte. Für gläubige Christen ist sie viel mehr, aber darum geht es hier nicht. Es geht, ginge eigentlich, um Toleranz, denn anders ist Friede nicht möglich.
"Frömmere lasen die Weihnachtsgeschichte,
andere liessen Bing Crosby laufen."
Wer sich zur Weihnachtszeit in den Andern einfühlt, an ihn denkt, weil er ihm mit einem Weihnachtsgeschenk eine Freude machen möchte, schafft damit Wohlwollen und Nähe. Dies gilt für alle Menschen, die sich darauf einlassen, Gläubige, Ungläubige, Andersgläubige. Diesen Ansatz muss man aber spüren wollen und zulassen. Wer das nicht tut, findet keinen Zugang.
Es gibt die andere Seite der Medaille, den Zwang, zu schenken, die Erwartungshaltung. Geschenke werden missbraucht, um dem andern eins auszuwischen, Religiosität wird zur Besserwisserei. Der schöne Ansatz, den Weihnachten haben kann, wird pervertiert. Darauf sollte sich keiner einlassen, denn es schadet letztlich ihm selber, weniger dem andern, vor allem aber dem Frieden.
Was konkret gelebt wird, bestimmt jeder selber. Auch, was innerhalb einer Familie zur Tradition wird. Die Strahmsche Sippe meiner Kindheit war heterogen, heterogener geht nicht. Wir feierten an mindestens vier Abenden, immer woanders. Die frömmeren Gastgeber lasen die Weihnachtsgeschichte vor, bei den andern klang Bing Crosby aus den Boxen, und mein stets rebellischer Onkel legte hinterrücks Militärmusik auf und brachte meinen frommen Vater dazu, wie ein Wachhund neben dem Plattenspieler auszuharren.
Es hatten notgedrungen alle ihren Platz, denn das Clan-Denken verbot, irgendwen auszuschliessen, die Familie steht zusammen, Punkt. Zum Glück hatten alle einen ausgeprägten Sinn für Humor, weshalb auch mein sonst so ruhiger Vater vor Weihnachten stets das Zauberlädeli leer kaufte und die Etepetete-Verwandtschaft mit falschen Tintenflecken auf kostbarem Damast und Senfpralinen in Wallungen brachte. Die Revanche folgte in aller Regel tags darauf an der nächsten Feier. Familiäre Neuzugänge kamen zuweilen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Aber wir sind in diesem Brauchtum aufgewachsen, andere nicht, und das müssen wir akzeptieren. Wie muss sich ein Kind fühlen, wenn es einen ihm fremden, wenn nicht gar vermeintlich feindlichen Gott besingen soll? Als Verräter an seinem Gott? Kriegt es Angst vor der Strafe seines Gottes? Ein Kind hat keine Wahl, wird von der Umgebung geprägt.
Wenn Kinder in einen Konflikt zwischen Eltern und Schule geraten, ist dies schlecht und das Gegenteil dessen, was die Weihnachtsgeschichte lehren kann. Entweder es gelingt, Eltern und damit Kinder fremder Kulturen den überreligiösen Sinn der Weihnachtsgeschichte zu erschliessen, und dann singen sie mit. Oder eben nicht. Dies wäre die Aufgabe der Schule. Denn Weihnachten oder Advent feiern zu müssen, wenn dies jemand mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, widerspricht nicht nur dem Sinn dieser Feiern, sondern auch der Glaubens- und Gewissensfreiheit, und zwar mit oder ohne die drei Lieder, die die Schule von Wil nun nicht mehr singen lässt.
Sonst bliebe ja nur noch "Oh Tannenbaum" aus dem Jahr 1550, sehr traditionell also. Darin besingen wir aus voller Brust nichts anderes als die immergrünen Blätter eines Nadelbaums, die der nicht hat.
16. Dezember 2019
"Musik ist ein Kitt, der die Welt zusammenhält"
Als bekennende Agnostikerin singe ich alle Weihnachtslieder mit, weil sie so stimmungsvoll sind. Musik ist ein Kitt, der die Welt zusammenhält. Die Texte mögen rein mythologisch oder gar abstrus sein, darüber sollte frau hinwegsehen. Auch andere Lieder und gar Arien haben Texte, die für sich allein gestellt seltsam anmuten.
Andrea Strahm hat recht: Religiöse Überlieferung, ob frau sie nun wörtlich glaubt oder nicht, ist eine kulturelle Grundlage, die der Gesellschaft Struktur gibt in Form von Ethik, Regeln und Gesetzen. Das gilt nicht nur für das Christentum. Der grüne "Tannenbaum" war ursprünglich ein heidnisches Symbol für Fruchtbarkeit und Lebenskraft. Doch auch heidnische Riten und Tradition sind Religion, Naturreligion eben.
Esther Murbach, Basel