Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Biographie: Ein Spiel"
Von Max Frisch
Regie: Amélie Niermeyer
Bühne: Florian Etti
Musik: Fabian Kalker
Dramaturgie: Martin Wigger
Kostüme: Kirsten Dephoff
Mit Andrea Bettini, Claudia Jahn, Martin Hug, Joanna Kapsch, Florian Müller-Morungen, Ilja Niederkirchner, Christiane Rossbach
Es tut weh, wenn man lacht
Vielleicht wäre Autor Max Frisch mit dieser Aufführung seiner Komödie "Biographie: Ein Spiel" endlich erstmals glücklich geworden; auch wenn er sich sie so wohl nicht vorgestellt hatte. Dem ausgebildeten Architekten ging es ja um Grundsätzliches: um die tragische Schnittstelle von Entwurf, von frei Denkbarem und unveränderbarer Realität etwa. Sein Romanheld Stiller wollte Stiller nicht gewesen sein. Sein Homo Faber empörte sich über den Menschen als "denkbare Konstruktion", aber aus "Material", das ein "Fluch" sei. Frisch stritt und schrieb, verkürzt gesagt, für eine "Dramaturgie des Zufalls", gegen die Dramaturgie der "Fügung", die dazu führe, dass man allem (im Nachhinein) einen Sinn unterstelle.
So liess der 56-jährige Dramatiker 1967 in "Biographie" seiner Type, einem bald fünfzigjährigen Intellektuellen mit Pfeife, die Chance, seine Biographie zu ändern. Mit Hilfe eines Spielleiters oder Registrators (je nach Version) darf der todkranke Professor Hannes Kürmann auf der Bühne Lebensszenen frei auswählen, sie nochmals durchspielen und dank anderen Wendungen den weiteren Lebensverlauf ändern. Vor allem seine Ehe mit Antoinette Stein will er verhindern, sie ungeschehen machen. Aber eben das geschieht nicht. Kürmann heiratet Antoinette nochmals, leidet nochmals, ändert nichts, nichts wesentliches jedenfalls.
Frischs Biographie-Spiel: Ein Paradox. Der Autor wetterte bei der Uraufführung, die Inszenierung bestätige ja genau die Fatalität, den "Schicksalsverlauf". Das Publikum applaudiere der "biederen Einsicht", dass wir an unserer Biographie nichts ändern könnten. Frisch änderte jedoch auch selbst nichts: 1984 überarbeitete er den Stoff, beliess aber den Verlauf.
Auch auf der Bühne des Schauspielhauses 2012 macht Kürmann fast alles nochmals gleich. Aber während frühere Aufführungen das Drama etwa mit nachvollziehbarer Figuren-Psychologie fest fügten, verschieben die Macher hier das Spiel in eine entpersönlichte Sphäre, in der jederzeit alles möglich scheint. Das beginnt mit der Bühne: keine Stubengemütlichkeit, auch keine Bühne-auf-der-Bühne-Modellsphäre, nein, viele rote Bälle hängen wie Planeten an gespannten Drahtseilen knapp über Kopfhöhe. Das Publikum sitzt zu beiden Seiten, davor und dahinter: Es gibt keinen geschlossenen Modellraum mit schützenden Wänden.
Das geht weiter mit den Personen: Es gibt keine Persönlichkeit Antoinette Stein. Mal sind es zwei, mal drei, mal sechs Spielerinnen und Spieler, jede und jeder ist anders. Die "Registratoren" und Assistenten, die Kürmanns Trips in die Vergangenheit ermöglichen, haben weder Spielleiter-Väterlichkeit noch wenden sie sich Kürmann mitfühlend zu. Eher sind sie neutrale Engel und anonyme Zuredner, die von allen Seiten Kürmann mit Entscheidungszwängen bedrängen: "Wollen Sie das jetzt ändern oder wollen Sie nicht?" Und sie ermahnen ihn: etwa, dass er nicht locker genug bleibe beim Spiel, weil er sich zu sehr an der Erinnerung statt an sich selber orientiere.
Auch eine Kürmann-typische Figur gibt es hier nicht: Er hat keinen Halt an einer Frisch-Pfeife, keine abgeklärte Reife-Herren-Erotik, er zeigt keine Eloquenz in philosophischen Erörterungen und auch keine Lehrerüberlegenheit, die er bei Frisch mit einer Schachlektion an Antoinette noch in der ersten Nacht beweisen darf. Martin Hug ist ein Mann ohne Eigenschaften im Anzug, der wie ein Statthalter Kürmanns dem Chaos seiner Erinnerungen mit männlichem Erfüllzwang anständig standhalten will und dem Sturm der Ereignisse aber hilflos ausgesetzt ist.
Denn auch die Erinnerungen sind in der Inszenierung von Amélie Niermeyer völlig verzogen und albtraumhaft. So ist kein Leben, so wirkt verstelltes Bewusstsein. Kürmanns erste Frau Barbara, die er in den Selbstmord trieb, erscheint als riesenhafte Braut – unter einem Schleier superpersifliert von Florian Müller-Morungen. Wenn in der Nachbarschaft eine Ballett-Schule lärmt, so tut sie es nicht wie im Original aus der Ferne: Die rosa Tütüs stürmen die Bühne.
Fatal sind jedoch Kürmanns mehrfache Fehleinschätzungen von und auch Fehlerinnerungen an Antoinette. In ihrer ersten Nacht, die xfach durchgespielt wird, weil hier Kürmann seinen Hauptlebensfehler sieht und einfach keinen Ausstiegs-Kniff findet, räkeln, lispeln und schnurren sich die beiden Antoinettes (Jahn und Kapsch) etwa so unzweideutig wie die Bond-Girls der sechziger Jahre in Kürmanns Bett. Nachdem er diese Wiederholung nicht verhindern kann, ist er ganz verblüfft darüber, dass Antoinette nach der ersten Nacht geht und gar kein Wiedersehen wollte. Er sagt: Ich hatte sie damals unterschätzt, und holt sie wieder zurück.
Interessant ist die wilde Auswahl, wo Kürmann seine Biographie ändert und wo nicht. Die Katastrophen belässt er. Das Auge seines ihn hänselnden Schulkollegen Rotz, das er mit einem Schneeball ausgeschossen hatte, das lässt er. Der Suizid seiner ersten Frau: Bleibt. Er habe sich an seine Schuld gewöhnt! Was er ändert: Nach einem Arztbesuch verzichtet er aus Angst auf den Alkohol. Und er will mit dem Beitritt in "die Partei" (bei Frisch war das noch die kommunistische) seine Professur verhindern, und zwar nur deshalb, weil er die darauffolgende Feier verunmöglichen will, an der er Antoinette kennen lernen würde.
Es gelingt ihm auch die Ohrfeige rückgängig zu machen, die er Antoinette verpasst hatte, nachdem sie wieder einmal nachts fernblieb. Und schliesslich hilft ihm auch ein Registrator, die tödlichen Schüsse, die er auf sie abgibt, zu eliminieren. Kürmann schaffte und schafft es aber auch der Wiederholung nicht, trotz der langjährigen Affäre, die Antoinette mit einem Architekten unterhält, sich von ihr zu trennen. Sie behält auch die bissige Schlusspointe. Während er mit Krebs im Spital (Hug liegt mitleidwürdig auf dem Boden) liegt, ändert sie ihre Biographie: ohne ihn.
Niermeyer hat das Stück aus seiner zeitgebundenen, modellhaften Verhocktheit gerettet und zupackend eine bunte, temposchnelle Biographie-Revue inszeniert, die so dahinflieht, wie Kürmann wohl sein Leben in der Nachschau registriert: Mal überlaut und invasiv, mal traumverworren, mal eindringlich leer und oft flüchtig. Darum tut es, wenn man lacht, auch etwas weh. Kürmann konnte nichts ändern, weil er es nicht vermochte. Punkt. Das Ensemble spielte munter. Gekonnt agierten Hug, Jahn, Kapsch, Bettini und Müller-Morungen. Das Premierenpublikum applaudierte kräftig.
20. Oktober 2012