... Murten/Morat: Der Röschti-Graben
Morat ist gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart. Jahrzehnte ist es her, seit mich im Sommer der Murtensee zum Baden eingeladen hat. Die Schüler des Collège St. Michel von Fribourg genossen damals das stets lauwarme Wasser. Im Neuenburgersee, wo die Collègiens, begleitet von den Patres, in der Sommerfrische auch ein kühles Bad genossen, war das Wasser tiefer aber auch kälter. Sowohl Estavayer-le-Lac als auch Murten sind zwei gut erhaltende mittelalterliche Städte. Wir Collègiens bevorzugten Morat des lauwarmen Wassers wegen. Murten war ja dann auch an der "Expo 02" - wer nur erinnert sich noch daran? - prominent mit dem Würfel von Jean Nouvel vertreten. Der Würfel in der Bucht ist leider verschwunden. Doch Morat lebt, Murten gedeiht.
Trotz langer Jahrzehnte im Ausland ist auch dem Auslandschweizer klar, dass der Nationalfeiertag, der 1. August, noch immer - oder immer mehr? - begangen wird. Aus der Jugendzeit noch die wachen Erinnerungen an die Festredner, die im Brustton der eidgenössischen Überzeugung den Sonderfall Schweiz über allen Klee gelobt haben. Und wir waren, echt, sehr stolz. Inzwischen sind Jahre, Jahrzehnte vergangen.
Der Sonderfall Schweiz ist - die derzeitige allgemeine Stimmung in der Schweiz betrachtend - wohl nicht mehr derart Sonderfall. Nicht nur wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern überhaupt. Deshalb die bange Frage aus über zehntausend Kilometern Entfernung: Wird noch, wie in meiner Jugend, der 1. August gefeiert mit allem, was dazu gehört: Trachten, Kinder mit leuchtenden Augen, Jodeln, Volkslieder, bengalisches Feuer, Höhenfeuer, Feuerwerk und einer waschechten 1. August-Rede?
Es wird. Jedenfalls die August-Rede. In Morat/Murten gibt es das. Der Festredner bin ich zu meinem Erstaunen selbst. Wer hätte das gedacht? Im zarten Greisenalter muss ich jetzt zum ersten Mal im Leben wohl den "Sonderfall Schweiz" nochmals aufleben lassen. Gewiss! Und wie!!
Gemach, Gemach. Natürlich nicht mit der rosaroten Brille des Heimweh-Nostalgikers. Mitten in Röschti-Graben von Morat/Murten - vom 15. bis 17. Jahrhundert ausgehoben - soll für die Überwindung der Sprachbarriere Mut gemacht und all jenen in der Deutschschweiz eine Absage erteilt werden, die dem Früh-Englischen das Wort reden. Schliesslich sind wir in der Schweiz, und Sprache ist auch und vor allem Kultur. Die erste Fremdsprache also muss zwingend Französisch, Italienisch oder - warum nicht - Romanisch sein. Nur so kann der Röschti-Graben überwunden und der Toleranz, dem gegenseitigen Hinhören und Verstehen zum Durchbruch verholfen werden. Die Schweiz kann nur so überleben.
In China gibt es zwar auch so etwas wie den Röschti-Graben, den Nudel- oder Reisgraben. Nördlich des Yangtse-Flusses werden Nudeln, südlich wird Reis gegessen. Der grosse Unterschied: Ein Nudelesser in Peking zum Beispiel kann sich mündlich mit einem Reisesser von Kanton nicht verständigen; aber er kann dank der universell gebräuchlichen chinesischen Schriftzeichen mit seinem südchinesischen Landsmann kommunizieren. Das ist für einen nur französisch sprechenden Lausanner und einen nur Deutsch sprechenden Zürcher unmöglich. Die groteske Folge, die mich seit Jahren immer wieder auf die Palme treibt: Romands und Deutschschweizer reden im Ausland English miteinander. Als Basler mit Wurzeln in der Romandie kann man da auf neudeutsch nur sagen: Give me a break!
Der Sonderfall Schweiz also wird in der Festrede in Morat/Murten gebührlich abgehandelt und gefeiert werden. Aber: Der Sonderfall - das ist die Botschaft - ist nicht gratis. Wir müssen uns Mühe geben, wir müssen Zuhören können, wir müssen auf die Romands, die Tessiner, die Romantschen eingehen und uns gegenseitig fordern, wir müssen versuchen, auch wenn es schwierig wird, tolerant zu sein, wir müssen weltoffen sein. Das ist mühsam, doch das war schon immer und wird immer der Sonderfall Schweiz sein. Ein Blick in die Geschichte der Eidgenossenschaft wird das bestätigen.
Kurz: wir müssen uns mit offenem Geist immer wieder neu erfinden. Und darauf, falls es gelingt und es ist schon so oft gelungen, kann jeder Schweizer und jede Schweizerin stolz sein.
So etwa wird zweisprachig die 1. August-Rede mitten im Röschti-Graben daherkommen. Wie genau, das wird sich zeigen. Ein Manuskript gibt es nicht und wird es nicht geben. Nur Stichworte. Ausser der Anrede:
Chers Moratois, Chères Moratoises.
Liebe Murtener, Liebe Murtnerinnen.
Chers Fribourgeois, Chères Fribourgeoises,
Liebe Freiburger, Liebe Freiburgerinnen,
Chers Concitoyens, Chères Compatriotes,
Liebe Miteidgenossen und Miteidgenossinnen,
Mesdames, Messieurs,
Meine Damen und Herren ...
22. Juni 2009