... Haidian: Velo, U-Bahn, Zukunft
Mit dem Fahrrad von Guo Mao im Zentrum Pekings in den nordwestlich gelegenen Haidian-Distrikt zu fahren, ist ein sportliches Vergnügen, gewiss. Das Velofahren hat aber noch andere Vorteile. Beim Pedaletreten spürt man rundherum fast physisch, wie die 17-Millionen-Metropole wächst und blüht und gedeiht. Die Veränderungen, die ich in den letzten zehn Jahren auf dem Fahrradsattel sozusagen hautnah mitverfolgen konnte, sind phantastisch. Doch als Velozypedist hat man heute immer weniger Bewegungs-Chancen. Das Auto macht sich immer mehr auch auf den grosszügig angelegten Fahrradwegen breit. Kein Wunder. Die Zahl der Autos ist in einem Jahrzehnt von knapp einer halben Million auf dreieinhalb Millionen angewachsen. Und wächst weiter. Trotz der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Als grösster Automarkt der Welt hat China die Vereinigten Staaten im Januar soeben abgelöst.
Für Architekten und Architektinnen muss Peking oder Shanghai oder Shenzhen oder Kanton oder Hangzhou und nicht zu vergessen Dalian oder Chongqing oder Dalian oder Chengdu oder Kunming oder Xi'an eine Augenweide sein. Frei nach dem Motto der "sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung": Anything goes. Natürlich gibt es auch in China Bauvorschriften. Sie sind aber so gehalten, wie es eigentlich überall sein sollte, nämlich als verbindliche Rahmenbedingungen, die Kreativität und Innovation nicht einschränken. Resultat: Weltklasse-Architektur wie beispielsweise das neue Zentrum des nationalen Fernsehens von Rem Koolhaas, aber auch Abscheulichkeiten, mit denen sich lokale und internationale Häuslebauer wohl einen Bubentraum erfüllen wollten. Summa summarum jedenfalls ist die Stadtentwicklung positiv.
Auch der öffentliche Verkehr ist seit wenigen Jahren ein ganz grosses Thema geworden. Vor allem im Untergrund, und besonders im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2008. Denn ohne Verkehrsplanung, so die Erkenntnis der allmächtigen Kommunistischen Partei, ist weder in Peking noch sonstwo in China nachhaltiges Wachstum zu haben. So sind in den sieben Jahren vor den Olympischen Spielen in Peking über 100 Kilometer neue Untergrundbahn gebaut worden. In den nächsten acht Jahren sollen es nochmals sage und schreibe 300 Kilometer werden.
Der Bau der Untergrundbahn Pekings begann mit zwei Linien in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts – ähnlich wie seinerzeit in Moskau und noch heute in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang Kathedralen des real existierenden Sozialismus. Heute jedoch sind die neuen U-Bahn-Linien der chinesischen Hauptstadt mit dem Neuesten vom Neuen der Technologie ausgerüstet. Modern also, kundenfreundlich. Kurz vor den Olympischen Spielen wurden dann auch noch die Papier-Tickets durch elektronische Karten ersetzt. In den klimatisierten Wagons wird auf Bildschirmen auf Chinesisch und Englisch der aktuelle Stand der Fahrt angezeigt.
Die Linie 10 von Guo Mao in den Haidian Distrikt ist stets gut bis sehr gut frequentiert. Nicht so proppevoll wie die U-Bahn in der japanischen Hauptstadt Tokio, aber dennoch viel gedrängter als im Bus an der Berner Länggasse, dem Tram am Zürcher Limmatquai oder dem Trämli am Basler Barfüsserplatz. Auf der Fahrt nach Haidian fragt man sich natürlich, womit die zig-tausend Passagiere früher gefahren sind. Mit dem Auto? Dem Fahrrad? Dem Bus?
Die Linie 10 von Guo Mao nach Haidian ist deshalb besonders wichtig, weil sie das Zentrale Geschäftsviertel (neudeutsch: "Central Business District") mit dem Universitätsviertel verbindet. In Haidian befinden sich die meisten Unis der Stadt, vor allem die Elite-Universitäten Beida und Qinghua. An diesen beiden Universitäten haben sozusagen alle massgeblichen Köpfe in den obersten Gremien von Regierung und Partei studiert.
Haidian gilt aber auch als das Silicon Valley von China. Junge, kreative Forscher und Techniker wirken dort in einer optimistischen, sehr kreativen Umgebung. Natürlich ist dort auch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ein Thema. Die Reaktion darauf ist in Haidian freilich weniger pessimistisch. Die Chinesen reagieren als Pragmatiker weniger aufgeregt als in Europa und der Schweiz. Chinesinnen und Chinesen – kulturell dem Konfuzianismus und dem zyklischen Yin-Yang-Prinzip verhaftet – wissen, dass es nach dem Niedergang immer wieder aufwärts geht. Zyklisch eben. Und darauf bereitet man sich in Haidian vor, statt Trübsal zu blasen. Das ist nicht Wunschdenken, sondern die pragmatische Art, mit der China in den letzten drei Jahrzehnten erfolgreich war.
Im Westen und in der Schweiz könnte man sich ein grosses Stück davon abschneiden. Nicht zuletzt die Schweizer Medien, die – wie auf dem Internet täglich nachlesen ist – Doom, Gloom und Weltuntergang in die Schlagzeilen heben. Bad News is good News – für die Auflage sehr wahrscheinlich.
In China wird zwar die ökonomische Wirklichkeit nicht ausgeblendet, aber bereits an der Zukunft gearbeitet. Mit einem positiven Grundgefühl trotz aller Schwierigkeiten. Der Westen könnte für einmal von China lernen. Von Haidian lernen nämlich.
16. Februar 2009