... Sanlitunr: Gossaumässig
Ein kleineres Quartier in der Megalopolis Peking (17 Millionen Einwohner). Im Stadtbezirk Chaoyang gelegen, liegt Sanlitunr nahe am Geschäftszentrum, dennoch aber schön im Grünen. Kein Wunder, denn eines der drei Botschaftsviertel der chinesischen Hauptstadt liegt in Sanlitunr. Heute entstehen neben den Botschaften vieler Staaten – darunter die Schweizer Botschaft – moderne Geschäftsviertel, zum Teil entworfen von weltbekannten Architekten. Vom Plan bis zur Verwirklichung geht es – im Unterschied zur Schweiz – nicht sieben, acht, neun oder zehn Jahre. In der Peking wird subito gebaut. Auch und besonders in der Krise.
Natürlich, in Schwamendingen, Bern-Bümpliz oder Birsfelden mischen sich jeweils Politiker ein, und der Souverän hat das letzte Wort. In Peking und mithin in Sanlitunr ist das halt etwas anders, basierend auf der konfuzianischen Tradition. Die Politiker mischen auch mit – nicht selten lukrativ hinter den Kulissen. Das Volk hat nichts zu sagen. Aber eben, es geht schnell. Das Resultat, muss man neidlos zugestehen, kann sich in den meisten Fällen sehen lassen.
Sanlitunr war schon vor über zwanzig Jahren wegweisend. Die erste Bar-Strasse Chinas entstand dort dank einigen Kleinunternehmern. So what?, sagen heute junge Westler. Nun denn, damals war das – inmitten einer Kampagne gegen die "bourgeoise Liberalisierung" – ein Akt der Zivilcourage.
Heute ist Sanlitunr eines von vielen modernen Pekinger Quartieren. Nicht besonders gross. Dennoch aber mit mehr Einwohnern als beispielshalber Bern (130'000) oder Basel (190'000) und fast so gross wie das lokal weltberühmte Downtown Zürich (360'000). Im Gespräch mit Pekinger Freunden kann immerhin das Argument "klein, aber fein" ausgespielt werden. Schliesslich ist meine Vaterstadt Basel-Basilea über 2'000 Jahre alt. Älter als Peking, und natürlich Turicum-Zürich.
Sanlitunr aber soll hier nur in den Mittelpunkt gestellt werden, weil es mittlerweile womöglich der sauberste Flecken auf diesem Planeten ist. Nach eigenen Erfahrungen sind Zürich, Bern, Basel oder Lausanne längst nicht mehr ein Hort der Sauberkeit. Selbst Pekinger Bekannte, welche die Schweiz bereisten, ist das aufgefallen. Aber jetzt, Buddha sei Dank, wird sich dank Gossau alles ändern.
Mittels Internet weiss ich: in Gossau wird gerotzt, gespuckt, gekotzt, uriniert, zu Unzeiten Rasen gemäht, gelärmt, Kaugummi auf die Strasse gespeuzt und Zigaretten achtlos weggeworfen. Schlimm. Meinen chinesischen Freunden erzähle ich das natürlich nicht, das heisst, ich berichte ihnen nur die neuen Massnahmen der Behörden. Also: Wer im "öffentlichen Raum" spuckt, uriniert und rotzt, kann jetzt in Gossau ab sofort gebüsst werden.
In China freilich braucht man nicht Verbote. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking und der Weltausstellung in Shanghai 2010 wurde und wird das Volk in einer breit angelegten Kampagne erzogen. Nachbarschafts-Komitees in Sanlitunr zum Beispiel bearbeiteten individuell Bürger und Bürgerinnen. Am Fernsehen laufen lustig gemachte Werbefilmchen über Spucken, Roten, Kotzen. Im Unterschied zum Westen eben gilt hier die konfuzianische Ethik. Das Individuum ist stark verpflichtet einem sozialen Zusammenhang. "Das Wohlergehen aller unter dem Himmel" hat Priorität. Zum Erstaunen vieler über China wenig informierter Westler hat die Kampagne nachhaltig gewirkt. Selbst das frühere Gerangel an Bus- und Metro-Haltestellen hat sich in geordnete Warteschlangen verwandelt. Bis auf den heutigen Tag.
Allein das Rotzen in der stets trockenen Pekinger Luft hat sich gehalten. Aber Bussen wie in Gossau gibt es nicht. Ob Gossau auch Vorbild für die "saubere" Rest-Schweiz werden wird, kann man nun mit Spannung verfolgen. In der Zwischenzeit bleiben einige Fragen: Werden die Fussballer des Fussball-Klubs Gossau (Nationalliga B, bzw. Neudeutsch Challenge League) oder die Turner des TSV Fortitudo Gossau beim Spucken auf den Rasen auch gebüsst? Und was, wenn die "Stadtjodler im Fürstenland Gossau" vor einem Juuuzzzer sich kräftig in die Hände spucken? Was machen die Betreuerinnen und Betreuer der Kinderkrippe Gossau, wenn die lieben Kleinen nach dem Schoppen ein Bäuerchen machen? Wird das ex Officio in Gossau auch bestraft? Schliesslich: Gilt im benachbarten Andwil, Engelburg, Wolferstwil oder Niederwil dasselbe wie in Gossau? Oder kann man dort gebührenfrei rotzen, kotzen, urinieren?
Fragen über Fragen. Gossaus Sauberkeit ist gewiss nachahmenswert. Nur eben: Von China lernen – Sauberkeit ohne Bussen – wäre in diesem Fall für einmal empfehlenswert.
9. März 2009