... Jinzhan Xiang: Chine profonde
Nordchina und damit Peking ist trocken. Staubtrocken. Kein Wunder, denn die Wüste Gobi ist nicht weit. Doch der Frühling erwacht jeweils mit einem Regenguss. Und das nur wenige Wochen, nachdem das letzte Eis vom Hohai-, Beihai-, Zhongnanhai-See und vom Wassergraben um die Verbotene Stadt weggeschmolzen ist. Nach dem Regen explodiert das Grün an den Bäumen. Vor dem Hochhaus aus der Wohnung im obersten 29. Stock sind die Trauerweiden am Kanal und die Laubbäume entlang der Chang'an, dem Boulevard des Ewigen Friedens, zunächst in Pastell-Hellgrün und nur zwei, drei Tage später in sattes Dunkelgrün getaucht.
Auch Radfahren macht wieder richtig Spass. Weg mit Pelzmütze, weg mit Handschuhen, weg mit Baumwoll-Gesichtsmaske, weg mit dem grünen Armeemantel. Noch bleiben zwei, drei Wochen bis zu den Sandstürmen, die Peking im späten Frühjahr aus den innerasiatischen Wüsten heimsuchen.
Die Jahreszeit kommt gerade recht für einen Bürowechsel. Das alte Büro innerhalb der Dritten Ringstrasse war vom Wohnort im Zentrum in einer halben Stunde zu erreichen. Jetzt sind es gut und gerne das Doppelte. Mit andern Worten: Jeden Tag rund 25 Kilometer hin und 25 Kilometer zurück. Ohne Übersetzung auf dem alten, schweren Rad der Marke "Fliegende Taube" mit Stängeli-Bremse.
Ja sicher, in Peking ist alles flach. Keine Berge wie in Basel, Zürich, Bern, Lausanne oder anderswo in der Schweiz. Aber Achtung, der Wind, der Wind das himmlische Kind! Mit etwas Pech kämpft man 25 Kilometer gegen starken Gegenwind. Das ist fast so – nach eigen erstrampelter Erfahrung – wie wenn man von Borgonovo im Bergell die Passstrasse nach Maloja hinauf in die Pedale tritt. Echt! No Kidding, um es auf Neudeutsch zu formulieren.
Warum tust Du Dir das an? Diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Ein Büro jenseits der fünften Ringstrasse, wo doch das gute (Büro) so nah war? Noch alle Tassen im Schrank? Gemach, gemach! Denn Fakt ist: Dem Angebot von einem Kleinstbüro in ein schönes, weites umzuziehen (Bild), war kaum etwas entgegenzusetzen. Im Auto-Lingo wäre das etwa so, wie zwischen einem abbruchreifen VW Jahrgang 1955 und einem niegelnagel neuen Porsche 911 oder – horribile dictu – einem gelben Hummer H2 zu wählen. Na eben!
Kommt dazu, dass ein den Künsten wohlgesinnter österreichischer Jungunternehmer mit gelehrtem Sinologie-Hintergrund das Büro bauen liess, und zwar von Antonio Ochoa, einem seit 20 Jahren in China lebenden Architekten aus Venezuela. Antonio ist inzwischen international bekannt und gefragt, und sein kleines Bürogebäude, wenn man das von einem Bau so sagen kann, ein Gedicht. Formal und funktional. Auch die Lage kommt nicht von ungefähr. Viele Kunstgalerien und Künstler haben sich in dieser Pekinger Region angesiedelt, unter anderen der mittlerweile weltbekannte Ai Weiwei (Vogelnest mit Herzog & deMeuron), der in Shanghai domilizierte Lorenz Helbling mit seiner Shangart-Galerie oder neuerdings der Luzerner Kunsthändler Meili.
Allerdings war es nicht ganz leicht, den Weg zum neuen Büro zu finden. In der chinesischen Hauptstadt nämlich ist mittlerweile alles auf Auto-Mobilität eingestellt. Velofahren im einst ultimativen Radfahrer-Paradies China – vergiss es! Der Weg ins neue Büro war mit Umwegen Kilometer um Kilometer zu erstasten. Der Vorteil: Die östliche Umgebung Pekings wieder neu erkunden.
Das Erstaunliche dabei ist, dass kaum ein Dutzend Kilometer von der Stadt entfernt la Chine Profonde beginnt. Das heisst das bäuerliche China. An Marktflecken vorbei, wo alles noch so ist wie vor zehn, zwanzig, dreissig Jahren. Selbst Brieftauben, weiland neben dem Drachenfliegen die Lieblingsbeschäftigung von Pensionierten, sind hier noch ein Thema; Kauf und Verkauf der gefiederten Lieblinge, Loblieder auf ein besonders exklusives Exemplar mit einem noch exklusiveren Preis. In den Strassenkneipen wird Bier und Baijiu (scharfer Schnaps) gebechert, Nudelsuppe geschlürft, Jiaozi und Baozi gegessen, über die Lage diskutiert und die da oben in der Zentralregierung in Peking zur Schnecke gemacht. Ansonsten, trotz der globalen Krise, durchaus Optimismus, nicht zuletzt wegen des Konjunkturprogramms, das die da oben organisiert haben und bis in die Niederungen eben jenes Dorfes, das ich seit Stunden suche, durchgesickert ist.
Drei Stunden auf dem handgefertigten Ledersattel (Kostenpunkt: 40 Yuan Renminbi oder rund sieben harte Schweizer Franken) auf der "Fliegenden Taube", und endlich ist auf weiten Umwegen Jinzhan Xiang erreicht. Genau der Ort knapp jenseits der fünften Ringstrasse, wo Architekt Antonio Ochoa und der österreichiche Jungunternehmer ihr Gesamtkunstwerk errichtet haben. Möge ihr Business – und selbstverständlich meine Berichterstattung – davon profitieren.
30. März 2009
"Ich bin einfach begeistert"
Ich bin vor zwei Wochen, nach einem zweijährigen China-Aufenthalt (mehrheitlich Shanghai), wieder nach Basel (Münchenstein) zurückgekehrt. Ich verfolge Ihre Berichte und habe Ihr Buch ("Süss&Sauer") gelesen und bin einfach begeistert.
Ich kann nur bestätigen, was Sie im letzten Bericht (Sanlitunr) beschrieben haben. Auch in Shanghai hat sich vor und nach den olympischen Spielen viel verändert und nachhaltig verbessert. Ich freue mich jetzt schon auf Ihren nächsten Bericht. Vielen Dank!
Franco Oetterli, Münchenstein