Im Status-Dilemma: Brunch statt Wut?
Ich werde diese Woche zweiundzwanzig. Das erkennt man schon daran, wie ich den Geburtstag feiere. Vor einem Jahr sassen wir noch frierend im Park und wärmten uns an ekligen Mischgetränken; dieses Jahr lade ich einen kleinen Kreis zum Brunch in die WG ein.
Letztes Jahr feierten wir mitunter Pandemie-bedingt draussen – dieses Jahr ist in meinem Umfeld eine regelrechte Brunch-Epidemie ausgebrochen: Sei es House-Warming-Party in der neuen WG, ein nicht einmal runder Geburtstag oder das überstandene Semester.
Statt uns draussen mehr oder weniger abzuschiessen und danach in den Ausgang zu gehen, treffen wir uns bereits vormittags. Wir gönnen uns Backwaren aus der Bäckerei, frisch gepressten Saft und Burrata von "Fine Food".
Zum Anstossen gibt es Sekt statt Wodka-Cola. Das ist wohl das einzige Vernünftige an dem Ganzen.
"Manchmal braucht es nicht viel, um einen
aus dem bünzligen Delirium zu holen."
Aber davon abgesehen: Ist das die Verbürgerlichung der Jugend – einer, die gar nie richtig rebellisch war? Geniessen wir die Avocado-Toasts zu diesen Anlässen umso mehr, weil die in unserem klimabewussten Leben während der letzten Jahre ausbleiben mussten?
Was kommt als nächstes? Beginnen wir wieder, in die Ferien zu fliegen und rechtfertigen dies wie unsere Eltern damit, dass wir einfach mal an der Wärme entspannen müssen? Im Februar.
Und das nur, um danach wieder den Leistungsansprüchen in Studium und Job genügen zu können.
Zugegeben freue ich mich auf einen entspannten Geburtstag ohne Angst vor Lärmbeschwerden der Nachbarinnen und Nachbarn, ohne Sorgen, dass die Wohnung bei spätnächtlichem Spaghetti-Kochen in Flammen aufgeht, oder noch schlimmer: dass niemand mehr imstande ist, mit in den Ausgang zu kommen.
Zugleich habe ich Angst davor, in ein Alter zu kommen, wo wir es hinnehmen, älter und "bünzliger" zu werden. Wir die neue WG hübsch einrichten, ich das alte Bett aus Euro-Paletten auf die Strasse stelle und mich dabei ertappe, wie ich ernsthaft erwäge, mir ein Designerbett zu kaufen. So richtig edel aus Chromstahl und mit einer angenehmen Liegehöhe, um nicht jeden Morgen nach einer gefühlt am Boden verbrachten Nacht mit einem verspannten Rücken aufzustehen.
Vielleicht engagieren wir uns dann noch ab und zu für nicht allzu kontroverse Anliegen – falls es nach der Demo eine geile Afterparty gibt. Aber hauptsächlich brunchen wir Wochenende für Wochenende vor uns hin.
Ich bezweifle aber, dass es ganz so weit kommt. Manchmal braucht es nicht viel, um einen aus dem bünzligen Delirium zu holen und wieder wütend zu machen. Wenn man von Freundinnen mitbekommt, wie die Polizei sie am 8. März behandelte, zum Beispiel. Von den deswegen nicht zur Sprache gekommenen Anliegen ganz zu schweigen. Da muss das ruhige und gesittete Vor-Sich-Hin-Brunchen warten.
13. März 2023
"Mit Witz und Treffgenauigkeit"
Die "Brunch-Epidemie" ist auch ein Ausdruck der Biedermeierisierung unserer Gesellschaft. Der Rückzug in die heile Brunch-Welt in Zeiten der grossen Umbrüche ist durchaus eine bürgerliche Tendenz. Das ist nicht schlecht aber auch nicht rebellisch oder weltverändernd. Etwas, das Max Kaufmann mit Witz und Treffgenauigkeit beschreibt. Herzlichen Dank.
Stephan Kalt, Basel
"Einfach Menschsein"
Warum um Himmels Willen wird das Brunchen mit "bürgerlich" abgehandelt, lieber Max Kaufmann? Brunchen heisst ja, soziale Kontakte zu pflegen, kommunikativer Austausch in aller Ruhe, ohne den Lärm und die laute Musik in einem hippen Lokal, wo man sich ja doch nur anschreien oder gar nicht reden kann. Brunchen heisst auch, mit dem Gegenüber streiten, lachen, lautstark diskutieren – jedenfalls geht es bei uns in unserer Familie so zu, wenn alle um den Tisch versammelt sind. All dies ist nicht links und nicht rechts und nicht bürgerlich, sondern einfach Menschsein.
In diesem Sinne: alles Gute zum Geburtstag!
Beatrice Isler, Basel