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"Eiskaltes Diktum": Humanoider Roboter Kotaro
Von der Künstlichen Intelligenz zum künstlichen Menschen
Sind wir schon auf dem Weg in die postbiologische Zukunft? Ja, wir sind.
Von Aurel Schmidt
Die Künstliche Superintelligenz ist soweit vorangeschritten, dass sie bald den Platz des Menschen einnehmen könnte. Tatsächlich steht die Menschheit vor einer Entscheidung von historischer Dimension. Alles ist möglich, auch das denkbar Schlimmste.
Das ultimative Potenzial der Künstlichen Intelligenz (KI) sei erheblich grösser als das der humanen Intelligenz, meint der Oxforder Zukunftsforscher Nick Bostrom. Das ist für den Menschen eine schwere narzisstische Kränkung. Im gleichen Moment beschleunigt sich die Forschung, gerät der Mensch immer mehr ins Hintertreffen und zeichnet sich eine tiefgreifende Veränderung des Lebens ab.
Doch was ist unter Intelligenz und unter Künstlicher Intelligenz genau zu verstehen? Und inwiefern kann man von Maschinen, Robotern und Programmen, zum Beispiel spionierenden Thermostaten, sagen, sie seien intelligent? Solange eine verbindliche Definition fehlt, kann unter dem Begriff jeweils das Passende sortiert werden. Ist KI ein autonomer Akteur oder eher ein Werkzeug?
Bisher haben wir unter Intelligenz die biologische Verarbeitung von Information und unter KI eine maschinell ausgeführte Rechenoperation verstanden. KI ist demnach computerisierte Intelligenz und kommt als Netzwerk, System oder Potenzial vor. Sie ist die Grundlage von Big Data.
Beide Intelligenzen, die natürliche und die künstliche, sind auf einen Träger angewiesen. Bei der biologischen Intelligenz ist es das Gehirn, bei der künstlichen sind es Rechner, Computer, Roboter. Weil in einer Maschine ein Programm abläuft, das einen Prozess steuert (einen Suchvorgang, eine Bewegung), wird sie zu einer intelligenten oder smarten Maschine.
Durch Fortschritt noch mehr Fortschritt
In jüngster Zeit sind zahllose Erfindungen auf digitaler Grundlage bekannt geworden, die alle von langer Hand vorbereitet worden, aber sprunghaft ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sind. Zum Beispiel lernen Querschnittgelähmte mit einem Gehirn-Computer-Interface und einem programmierbaren Exo-Skelett als Gehhilfe wieder laufen. Es sind vorläufig noch schwerfällige Apparaturen, aber niemand zweifelt daran, dass bedeutende Fortschritte noch folgen werden.
Die Visualisierung von Gedanken und Träumen ist kein Ding der Unmöglichkeit mehr, wenn auch tiefgreifende – und höchst problematische – Eingriffe in die Intimsphäre des Menschen damit verbunden sind.
Die Navigations-App "Waze" findet für ortsunkundige Automobilisten nicht nur den Weg ans Ziel, sondern sucht bei hohem Verkaufsaufkommen und Staus Ausweichrouten und berechnet nicht nur den kürzesten, sondern auch den schnellsten Weg.
Hochperformative Börsenprogramme greifen im Netz News wie Ernte-Ergebnisse, Wetterprognosen, politische Unruhen ab, erstellen Marktanalysen und prognostizieren Kursentwicklungen. Die Folge ist, dass in den USA heute 70 bis 80 Prozent der Börsentransaktionen automatisch abgewickelt werden; in Europa sind es erst etwa 50 Prozent.
Technische Verbesserungen sind zuerst nur langsam erzielt worden, so dass sie auf einer graphischen Darstellung als flach ansteigende Linie dargestellt werden. Nach einer kurzen Übergangsphase aber sind die Linien fast senkrecht in die Höhe geschnellt, was mit dem Mooreschen Gesetz zu tun hat. Es besagt, dass sich technische Entwicklungen alle ein bis zwei Jahre verdoppeln. Die Fortschrittsmenge nimmt also nicht linear zu, sondern exponentiell. Jede erfolgreiche Rechenoperation kann so zur Voraussetzung für alle folgenden Operationen werden.
Denkende und fühlende Maschinen
Die Akzeleration hat von einfachen Rechen- und Suchmaschinen zu neuen Generationen von intelligenten Maschinen geführt, deren Eigenschaft nicht mehr darin liegt, von einer Software gesteuert zu werden, sondern die gelernt haben, sich selbst von sich aus weiterzuentwickeln. Auf eine vorgefundene Situation zu reagieren, reicht nicht mehr aus. In Zukunft sollen die intelligenten Maschinen in die Lage versetzt werden – oder sind es schon geworden –, sich so zu optimieren, damit sie mit ihrer Umgebung kommunizieren und interagieren können. Zum maschinellen Lernen (zum Beispiel mittels neuronaler Netze oder Deep Learning) gehört unter anderem, Gefühle zu erkennen und sogar selbst zu haben. Intelligente Unterhaltungen mit einem Roboter wie mit einem Psychiater sind in Realisierungsnähe gerückt.
Kann aber ein Computer oder Roboter überhaupt denken, Verständnis zeigen, Gefühle haben, also humane Eigenschaften besitzen? Genau solche Eigenschaften sollen Maschinen sich in Zukunft zulegen, um das Prädikat "intelligent" zu bekommen. Vielleicht werden sie eines Tages sogar ein Selbstbewusstsein entwickelt haben und sagen können: "Ich weiss, dass ich eine intelligente Maschine bin!" Wer weiss.
Die Lern- und Selbstverbesserungsfähigkeit der Maschinen ist eine technische Sache und basiert auf den bisher bereits erzielten Fortschritten, die inzwischen ein beträchtliches Ausmass angenommen haben.
Erstens steht mehr Rechenkapazität zur Verfügung als je zuvor. Zum Beispiel übernehmen Roboter von anderen Robotern freie Kapazität, wodurch sich so etwas wie "cloud roboting" ergibt beziehungsweise Roboter-Clouds entstehen. Durch den Rückgriff auf die Datenmenge, die im Netz gespeichert ist, und die Möglichkeit, die abrufbaren Daten auf mehreren Ebenen zu vergleichen, lassen sich zweitens zunächst eher gröbere, aber nach und nach immer präzisere Gesetzmässigkeiten erkennen. Der grosse Vorteil besteht wohl vor allem darin, dass drittens die intelligenten Maschinen selbständig auf die vorhandenen Datenbestände greifen und vom akkumulierten Wissen profitieren können.
Warum also die Probleme neu erfinden, wenn längst Lösungen in Ansätzen vorliegen, von denen aus weiter vorangegangen werden kann? Natürlich ist es problematisch, von intelligenten oder denkenden Maschinen zu sprechen, aber die erzielten Ergebnisse lassen an eine – unsichtbare, im Geheimen wirkende – Kraft oder Intelligenz denken, die mit menschlichem Format assoziiert wird. Werden auch noch sensorische und emotionale Fähigkeiten antrainiert, wird der Unterschied zwischen Maschine und Mensch immer geringer.
Was ist überhaupt menschlich?
Von Interesse ist im hier gegebenen Zusammenhang die Frage, welche Folgen in der Entwicklung der einst zimmer- und schrankgrossen, mit Lochkarten betriebenen Hilfsmaschinen zu den miniaturisierten Universalmaschinen und von der KI zur künstlichen Superintelligenz (KSI) von morgen eintreten werden.
Mit dieser Aussicht ist die Auseinandersetzung zwischen der technischen und der philosophischen Fraktion eröffnet. Was für Skeptiker reiner Humbug ist, liegt für die Euphoriker in der Logik des Fortschritts. Alles hängt davon ab, wie der Begriff "menschlich" definiert wird. Können menschliche Gefühle, Stimmungen, Einfälle, Launen auf einen an eine Software erinnernden Ursprung zurückgeführt werden? Sind Hirnleistungen etwas wie Algorithmen beziehungsweise automatisch ablaufende Operationen, wie ein guter Materialist behaupten müsste, oder es sind es wie für einen Humanisten individuumsbezogene kreative Anlagen? Je nach Standpunkt wird die Antwort ausfallen.
Als Künstliche Superintelligenz bezeichnet der schon erwähnte Nick Bostrom einen "Verstand, der über das menschliche Mass hinausgeht", also den Menschen in seinen Fähigkeiten weit übertrifft. In seinem Buch "Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution" hat er den Versuch unternommen, die möglichen Perspektiven und damit verbundenen Probleme vorauszusehen. Die Mängel des Buchs in Betracht gezogen, lassen sich verschiedene Angaben zum besseren Verständnis finden, was auf uns zukommt. Der Rest sind periphere Überlegungen.
Die erste Frage ist, zu welchem Zeitpunkt die KSI Realität werden wird. Bostroms Prognose sieht die Zeit zwischen 2045 und 2060 vor. Andere Forscher rechnen bereits mit 2029 damit.
Wenn wir in die Zukunft schauen, müssen wir also einen Umschwung auf uns zukommen sehen, den der amerikanische Informatiker und Autor Vernor Vinge als "Singularität" bezeichnet hat. Er wollte damit ausdrücken, dass die Superintelligenz sich dannzumal als irreversible Tatsache herausgestellt haben wird. "Wenig später ist die Ära des Menschen beendet", lautet Vinges eiskaltes Diktum.
Zukunft mit Horrorpotenzial
Die Welt, in der wir einmal leben werden, lässt sich vielleicht berechnen, aber nur schwer vorstellen. Das Schlimmste ist ebenso möglich wie das Phantastischste. Eigentlich ist alles möglich, wir wissen nur nicht, was es sein wird. Schon heute schauen die Börsianer fassungslos auf ihre Bildschirme, wenn die Börsenkurse eigenständig ihren Verlauf nehmen. Zum Beispiel, wenn irgendwo auf der Welt riesige, bisher unbekannte Ölvorkommen entdeckt werden und die Börsenmaschinen anfangen, verrückt zu spielen, weil fette Gewinne winken.
Was den Blick in die Zukunft so faszinierend macht, ist sein immanentes Horrorpotenzial. Aber muss es gleich das Ende der Menschheit sein?
Die Meinungen driften weit auseinander. Zum Beispiel hat der britische Astrophysiker Stephen Hawking, wegen seiner Lähmung selbst von KI zum Weiterleben in hohem Mass abhängig, kürzlich gewarnt, eine entgleitende Superintelligenz könnte die Menschen vor unabsehbare Risiken stellen. Für ihn ist der Fortbestand der Menschheit in Gefahr. Im gleichen Sinn hat Bill Gates eingeräumt, nicht verstehen zu können, warum die Menschen von der heranrückenden Bedrohung nicht alarmiert würden.
Dem Chor der Skeptiker und Mahner steht die Phalanx der zu allem entschlossenen Techno-Optimisten gegenüber: Ray Kurzweil, Rodney Brooks, Hans Moravec und andere Koryphäen auf diesem Gebiet. Für sie kann alles nur besser werden, freilich unter der Voraussetzung, dass wir mehr Technik einsetzen und nicht etwa weniger.
Bostrom nimmt eine dritte Position ein. Zum Beispiel stellt er sich die Frage, ob es eine einzige oder mehrere Superintelligenzen geben wird. Er spekuliert, dass es in einem frühen Stadium viele davon geben wird, die sich einen Wettbewerb untereinander liefern. Wenn zuletzt eine unter ihnen siegreich aus dem Rennen hervorgeht, wird sie wahrscheinlich versuchen, die mitkonkurrierenden Superintelligenzen zu eliminieren. Wie zu sehen ist, tritt die Superintelligenz hier bereits als autonomer Akteur auf. Sie hat sich ja einen eigenen Willen angeeignet.
Fusion von Mensch und Maschine
Gut denkbar ist infolgedessen, dass die Superintelligenz mit eigenem Bewusstsein sich jede fremde Einmischung – also von Seiten der Menschen, die sie in den Anfangszeiten entwickelt haben – verbieten, unter Umständen "Nein" sagen und nur ihre eigenen Entscheidungen zulassen wird. Nicht ausschliessen lässt sich – für Bostrom – auch, dass die Superintelligenz die Weltherrschaft anstrebt. Das wäre der worst case. Bostrom hat wirklich alle Möglichkeiten in Betracht gezogen.
Das Szenario ultimativer universaler Machtausübung durch die Superintelligenz ist für Bostrom freilich zuletzt dann doch keine reale Option, nur schon deshalb, weil sie noch in weiter Ferne liegt. Trotzdem warnt er eindringlich vor ihr. Die Menschen – oder die KI-Forscher, die er im Visier hat – vergleicht er mit Kindern, die mit einer Bombe spielen und statt "Alarm" oder "In Deckung" rufen.
Erstaunlich ist dabei nur, dass seine Vorbehalte in einem eklatanten Widerspruch stehen zum Transhumanismus, zu dessen Exponenten Bostrom selbst gehört. Mit dem Begriff ist gemeint, dass durch radikalen Einsatz fortgeschrittener Technologie die menschliche Leistung – über den Prothesengott von Sigmund Freud oder die Theorie von der körperlichen Erweiterung ("body extension“) von Marshall McLuhan hinaus – ins Immense gesteigert wird, mit einem totalen Re-Design des Menschen als Perspektive.
Tatsächlich steht die Menschheit an einer Entscheidung von historischer Dimension. Sie kann für ihre eigene Auslöschung optieren oder für ein Ewiges Leben in einem digitalen Nirwana. Die Schwelle ist mit nichts weniger der Zellteilung vergleichbar.
Was sich längst beobachten lässt, ist eine Verschmelzung von Mensch und Maschine, von Hardware und Wetware (Biologie), von Organismus und künstlichem Bauteil (zum Beispiel Pace Maker), von Gehirn und Silizium. Selbstverwirklichung war gestern, Selbsterweiterung ist heute. Morgen steht der Umbau des Menschen auf dem Programm: seine Fusion mit der Maschine. Ist das Auto ein Hilfsmittel des Menschen oder dieser ein Bestandteil des Autos, das wahrscheinlich bald selbststeuernd durch die Strassen kurven wird? Maschinen nehmen menschliche Züge an, der Mensch maschinelle. Was für ein Wesen, für eine Einheit, eine Potenzialität wird da entstehen?
Für den Propheten der schönen neuen Zukunft, Ray Kurzweil, steht fest, dass KSI eines Tages das Universum übernehmen wird, jedoch die Superintelligenz dann im Menschen in seiner zukünftigen Form realisiert sein wird, wenn er den Schritt über seine biologische Grenze – und Behinderung, wie er sagt – hinaus vollzogen hat.
Eine Welt aus Geist, Zahlen, Zeichen, Inputs
Für den Roboterentwickler Rodney Brooks ist die selbe Entwicklung ganz selbstverständlich. Menschen sind Maschinen, die nach bestimmten physikalischen und chemischen Gesetzmässigkeiten funktionieren und daher Maschinen, Rechner, Roboter bauen werden, die so sein werden wie sie selbst.
Vorläufig sind die intelligenten Maschinen von morgen zu ihrer Weiterentwicklung oft noch auf die Hilfe von aussen – von Menschen der alten Sorte – angewiesen. Aber eines absehbaren Tages, wenn sie ihr Lernprogramm absolviert und sich unabhängig gemacht haben, werden sie wie Kinder, die erwachsen geworden sind, ihre Eltern verlassen und ihre eigenen Wege gehen. Die Eltern beziehungsweise menschlichen Pioniere der KI treten dann in den Hintergrund und verschwinden schliesslich.
Künstliche und Maschinenmenschen sind in der Literatur ein häufig vorkommendes Motiv: von Julien Offray de la Mettries "Die Maschine Mensch" (1748) über Samuel Butlers "Erewhon oder Jenseits der Berge" (1872) bis zum Roman "Die neue Eva" (1886) von Auguste Villiers de l'Isle-Adam, der die radikalste Version und Vision über die Wirkweise des androiden Automatismus geliefert hat. Ein uralter Menschheitstraum findet hier seinen Ausdruck. Wie sagte der Pop-Künstler Andy Warhol? "I want to be a machine."
Für den Robotikwissenschafter Hans Moravec ist klar, dass die Menschen bis auf eine unentwegte Minderheit stehen geblieben sind und aufgehört haben, sich technisch-maschinell weiterzuentwickeln. Nur Maschinen werden aber für Moravec in Zukunft Menschen sein. An die Stelle der materiellen Welt und der naturwissenschaftlichen Gesetze tritt eine Welt aus Geist, Zahlen, Zeichen, Inputs, Stromkreisen oder von neurologischen Programmen, die auf Computern ablaufen und ohne Gehirn auskommen.
Wir haben schon lange einen unumkehrbaren Weg eingeschlagen. Auch wenn wir vom Ziel noch kaum eine plastische Vorstellung haben, könnten wir es schon im Jahr 2029 erreichen. Oder aber später. Never say never.
7. Oktober 2015