Chinas Parteichef: "Das Ideal des Kommunismus"
Kaum war er vor einem halben Jahr vom Zentralkomitee zum neuen Parteichef, also zum mächtigsten Mann der Volksrepublik erkoren, gab sich Xi Jinping auch schon eine Regierungsdevise. Inoffiziell natürlich, doch nicht weniger wirksam. Xi träumte mit offen leuchtenden Augen vom "Chinesischen Traum". Der inzwischen auch zum Staatspräsident gewählte Xi tat nichts anderes als das, was schon seine Vor-, Vorvor- und Vorvorvorgänger zu tun pflegten. Von den Kaisern der letzten zweitausend Jahre ganz zu schweigen.
So fiel der grosse Revolutionär und Reformarchitekt Deng Xiaoping mit dem Slogan "Reform und Öffnung" auf sowie mit dem noch heute populären und gültigen Spruch "reich sein ist glorreich". Staats- und Parteichef Jiang Zemin (1989-2002) wollte mit der eher kryptischen Devise der "Drei Vertretungen" in die Geschichte eingehen. Xis unmittebarer Vorgänger Hu Jintao (2003-2012) bediente sich aus dem Fundus von Meister Kong (Konfuzius) und liess die "harmonische Gesellschaft" als Parteilinie festschreiben. Überdies verordnete er "wissenschaftliche" Entwicklung für Wirtschaft und Gesellschaft.
Der neue Chef ging nun einen Schritt weiter. In seinem "Chinesischen Traum" appelliert er wirksam an Gefühle und ans Volksempfinden. Marxismus-Leninismus-Mao-Dsedong-Denken oder Kommunismus werden kaum erwähnt. Mit dem Traum versucht die allmächtige Kommunistische Partei eine neue Quelle der Legitimität zu schaffen. Nicht verwunderlich, denn im Wirtschaftswunderland der Mitte kann ein rapider Wertezerfall beobachtet werden. Mit dem neuen Slogan versucht die chinesische Führung eine dank der Wirtschaftsreform und den daraus folgenden sozialen Umwälzungen immer differenziertere Gesellschaft zu einen.
"Der Wiederaufstieg Chinas sucht
seinesgleichen in der Weltgeschichte."
Mit dem "Chinesischen Traum" hat Xi Jinping tatsächlich einen Nerv tief im kollektiven Unterbewusstsein getroffen, allerdings vorbereitet von jahrzehntelanger Propaganda. Nicht ganz von ungefähr hat der Parteichef im November seine neue Devise an einer Ausstellung im Nationalmuseum am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen präsentiert. Dort wird in einer Ausstellung mit dem Titel "Weg zur Wiedergeburt" die Geschichte Chinas seit dem ersten Opiumkrieg (1839-1842) dargestellt. Es ist die Geschichte von Kränkungen und Leiden durch die imperialistischen Mächte Europas, Russlands, der USA und Japans und die Rettung durch die Kommunistische Partei. Der Wiederaufstieg Chinas der letzten drei Jahrzehnte sucht seinesgleichen in der Weltgeschichte. Die Botschaft: China hat jetzt jenen Platz wieder erreicht, der ihm rechtens zusteht, und den es vor dem "Jahrhundert der Schande" bereits über tausend Jahre eingenommen hatte.
Dass in der Ausstellung die ersten dreissig Jahre der Volksrepublik nur am Rande erwähnt werden, versteht sich von selbst. Es sind die Jahre der Kampagnen etwa gegen "Landbesitzer" oder Rechtsabweichler mit mehreren Millionen Opfern. Es ist auch die Zeit des "Grossen Sprungs nach Vorn" (1958-1961) mit der grössten Hungersnot der Weltgeschichte (35 bis 45 Millionen Tote), der "Grossen Proletarischen Kulturrevolution" (1966-1976) mit unsäglichen Greueln, Leid und Tod sowie den Studenten- und Arbeiterprotesten von 1989. Was Mao Dsedong bis zu seinem Tode 1976 angerichtet hat, entsprang nicht Träumen, sondern utopischem Denken. In der Wirklichkeit wurden daraus Albträume. Doch noch heute wird Maos Wirken parteiamtlich als zu 70 Prozent gut und 30 Prozent schlecht taxiert.
In seiner Rede im Nationalmuseum zog der Parteichef Xi alle Register seiner rhetorisch bemerkenswerten Fähigkeiten. "Der grösste Chinesische Traum", rief Xi Jinping aus, "ist die grosse Wiedergeburt der chinesischen Nation". Bis in die Mitte dieses Jahrhunderts soll nach diesem "Chinesischen Traum" eine "reiche, starke, demokratische, zivilisierte, moderne, sozialistische und harmonische Gesellschaft" entstehen. Natürlich weiss der neue Staats- und Parteichef, wem er verpflichtet ist. Er sprach deshalb in den letzten Monaten und Wochen auch immer wieder von einem "starken Armee-Traum" und vom "Geist einer starken Armee". Aber auch Laobaixing, der Durchschnittsbürger, geht bei Genosse Xi nicht vergessen: "Unsere Mission ist es, die Wünsche des Volkes für ein glückliches Leben zu erfüllen." Immer natürlich unter der weisen Führung der KP. Der Parteichef formuliert deshalb zuhanden der 82 Millionen Parteimitglieder klipp und klar, was Sache ist: "Der Chinesische Traum ist ein Ideal. Kommunisten sollten ein höheres Ideal haben, und das ist das Ideal des Kommunismus".
Im Ausland sind Xi Jinpings Träumereien kritisch hinterfragt worden. Wie üblich interpretieren viele westliche Kommentatoren bar jeder historischen Kenntnisse den "Chinesischen Traum" - zu Unrecht - vor allem als Bedrohung und als Zeichen militärischen Muskelspiels. Vor Studenten in Moskau sagte Xi Jinping versöhnlich: "Der Chinesische Traum, den wir realisieren wollen, wird nicht nur das chinesische Volk, sondern die Menschen aller Länder glücklich machen." In Afrika meinte Xi, man müsse sich gegenseitig in der Erfüllung der Träume helfen. Und gerade jetzt dürfte wohl Xi US-Präsident Obama das Blaue vom Himmel heruntergeträumt haben.
In der chinesischen Presse wiederum wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass der Traum nicht mit "nationaler Stärke" enden wird. Vielmehr müsse so lange weiter geträumt werden, bis jeder vom höchsten Beamten bis zum Strassenverkäufer in Würde leben könne. In der Tat, der grosse Harmonisierer Xi Jinping hat einen fein ausbalancierten Traum entworfen, der für alle und jede Gelegenheit gilt. Jeder kann sich bedienen. So träumen denn viele Chinesinnen und Chinesen auf dem Internet von "weniger Korruption", einer "gerechteren Gesellschaft", "sauberer Luft" und ganz prosaisch von einem "höheren Einkommen".
Es darf also weiter geträumt werden in China. Politisch mehr oder weniger korrekt. Sogar der amerikanische Aussenminister John Kerry begann, inspiriert vom "Chinesischen Traum", kurz nach seiner Peking-Visite von einem "Pazifischen Traum" zu schwadronieren. Wo nur führt das hin! Fehlte gerade noch, dass jetzt auch der kleine Grosse Vorsitzende Ueli Maurer einen "Schweizer Traum" entwirft.
10. Juni 2013