Bedeutung verloren: Linke Kampfbegriffe
Fast ein halbes Jahr lang hat die Linke sämtliche Diskurse beherrscht und viel dazu beigetragen, dass sich im Zeichen der politischen Korrektheit eine Einheitsmeinung bilden konnte, die jede Abweichung von ihr verteufelt hat. Der deutsche Soziologe Manfred Kleine-Hartlage spricht in seinem Buch "Die Sprache der BRD" von einer Verdächtigungsbranche, die sich ausgebreitet hat. Das gilt überall.
Kleine-Hartlage erinnert an eine Propagandakampagne in Berlin: "Diskriminierung hat viele Gesichter". Selbst wer sich nichts hat zu Schulden kommen lassen, macht sich verdächtig. Vielleicht weiss er oder sie es nur noch nicht. Bei der Lektüre von Kleine-Hartlages Buch muss man sich fragen, wie es möglich war, dass sich eine verlogene Rechtschaffenheit breit machen konnte, für die der Begriff Pharisäertum gerade recht ist. Es herrscht Generalverdacht.
Immer mehr stellt sich politische Korrektheit als "Eigentor" heraus, wie der schweizerisch-israelische Psychoanalytiker und Publizist Carlo Strenger in seinem kleinen Buch "Zivilisierte Verachtung" analysiert.
Korrektes Verhalten ist eine axiomatische Grundregel. Doch immer häufiger stellt sich heraus, dass mit dem Begriff die Korrektheit einer Clique gemeint ist, die nur deshalb recht hat, weil sie durch Selbstermächtigung jede andere Meinung als ihre eigene ins Unrecht setzt.
Wenn Flüchtlinge, die einen Weg nach Europa suchen, im Mittelmeer ertrinken, dann lässt sich die Katastrophe nicht mit Empörung über Versäumnisse oder mit Schuldzuweisungen beheben. Das ist nur gut für das eigene Befinden. Wer sichere Korridore von Nordafrika nach Europa fordert, muss einberechnen, dass mit Garantie die Flüchtlingsströme zunehmen werden. In Afrika warten Millionen Menschen auf einen Transfer. Dass es sich dabei um ein Problem von globalem Ausmass handelt, zeigen ähnliche Zustände in Asien und Australien. Das Argument von der "Festung Europa" übersieht, dass die Situation, wie sie ist, nicht hingenommen werden kann und die Behörden einschreiten müssen.
"Wer heute Aufklärung sagt, macht sich
als Eurozentriker verdächtig."
Die Komplexität der Lage macht deutlich, dass ihr eine schicksalhafte Verknüpfung zu Grunde liegt. Wer Forderungen stellt, muss dann aber auch die Folgen in Kauf nehmen, zum Beispiel, dass sich Europa von Grund auf verändern wird. Was falsch war oder richtig ist, wissen wir in fünfzig Jahren, vielleicht schon früher.
Was wir aber heute sehen können, ist ein Mentalitätswandel und die Tatsache, dass der gutgemeinte Diskurs von 50 Jahren nicht mehr taugt. Die Welt ist nicht mehr bipolar, als es einfach war, sich für die eine oder andere Seite festzulegen. Sie besteht heute vielmehr aus unzähligen Polen, Parteien, Mentalitäten, Ideologien, und niemand besitzt für die auseinanderbrechende Welt eine abschliessende Antwort.
Was wir tun können und tun müssen, ist dies: über die Probleme kontrovers, aber fair zu reden. Das ist die einzige Möglichkeit, um bessere Ideen zu entwickeln. Werden differierende Meinungen zensuriert, wird das nicht geschehen, sondern werden sich im Gegenteil gesellschaftliche Verhältnisse unter dogmatischen, ideologischen, also diktatorischen Voraussetzungen ergeben. Niemand ist von Kritik dispensiert, aber niemand, der anderer Meinung ist, deshalb gleich ein Rassist, Populist, Islamophob, Verschwörungstheoretiker u.s.w. Einige aber schon.
Zur bisherigen politischen Korrektheit gehörte auch das Glaubensbekenntnis an die multikulturelle Welt, das der Linken als letzter Strohhalm geblieben ist, nachdem sie sich mit ihrem neoliberalen Flirt (Schröder, Blair, Hollande) selbst ihr Waterloo bereitet hat.
Das multikulturelle Amerika ist hundertprozentig amerikanisch, der Islam ist hundertprozent islamisch. Nur Europa ist bereit, sich zu vermischen und aufzugeben, bedingt durch die Erfindung des schlechten Gewissens wegen seiner Vergangenheit, etwa des Kolonialismus. Der aber war keine Fehlleistung der Aufklärung, sondern eine Verletzung von ihr, wie man zum Beispiel bei Denis Diderot nachlesen kann.
Wer heute Aufklärung sagt, macht sich als Eurozentriker suspekt. Dabei ist sie die Grundlage unseres Denkens. Der slowenische Philosophen Slavoj Zizek hat sich kürzlich in einem Gespräch im "Spiegel" als "eurozentrischer Linker" bezeichnete. Das Erbe der Aufklärung müsse in eine neue europäische Leitkultur übergeführt werden, weil so und nur so die zentralen Werte von Freiheit und liberaler Demokratie gerettet werden können, erklärte er mit überraschender Entschiedenheit.
Weder Berufung auf den Multikulturalismus noch auf den kulturellen Relativismus, mit denen die westliche Tradition der Begriffe in einer schemenhaften Uneigentlichkeit vaporisiert werden, helfen uns weiter. In der Lage ist dazu nur ein Universalismus, der als Vermächtnis der Aufklärung über allen Fraktionen und Verschiedenheiten steht.
15. Juni 2015