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"Balanceakte ohne Auffangnetz": Baselbieter Psychiater Küchenhoff
"Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit sind noch längst nicht ausgeschöpft"
Joachim Küchenhoff, der abtretende ärztliche Leiter der Baselbieter Erwachsenen-Psychiatrie, fordert Strukturveränderungen
Von Peter Knechtli
Die Zusammenarbeit der staatlichen psychiatrischen Kliniken in der Region Basel ist verbesserungsfähig: Joachim Küchenhoff, der abtretende ärztliche Direktor der Psychiatrie Baselland, fordert eine "bessere Aufteilung der Arbeitsschwerpunkte". Er widerspricht auch der Auffassung, die Schweiz werde angesichts höherer Fallzahlen psychisch immer kränker.
Die Psychiatrie führt ein Schattendasein. Die grossen Themen in der Region Basel sind die Bildung einer Universitätsklinik Nordwest AG unter Organisation einer Gesundheitsregion, die beide noch längst nicht unter Dach und Fach sind. Von der Psychiatrie spricht niemand. OnlineReports nahm die Gelegenheit wahr, sich mit Professor Joachim Küchenhoff zu unterhalten. Der ärztliche Direktor der Psychiatrie Baselland geht Ende Juli, 65-jährig, in Pension.
Der Empfang im 1974 errichteten markanten Psychiatrie-Bau in Liestal ist formlos freundlich. Ich begegne einem gross gewachsenen Mann im fein karierten weissen Kurzarmhemd. Wir sitzen an einem Konversations-Tischchen. Joachim Küchenhoff spricht leise, um gelegentlich ein Crescendo einzulegen.
Während elf Jahren führte er die Geisttherapie-Klinik, zunächst als Chefarzt der Klinik mit 238 Betten – während ein weiterer Chefarzt die sechs Ambulatorien führte –, seit 2014 als Direktor der Erwachsenenpsychiatrie, sozusagen als Super-Chefarzt.
Auslagerung: Enorme Veränderung
Die damalige Verschmelzung der Klinik mit den Ambulatorien sei eine "Riesen-Zusammenführung" gewesen, allerdings mit einem klaren Vorteil: "Ein ambulanter Patient, dem es schlechter geht, kann viel leichter in die Klinik überwechseln – und umgekehrt. Die beiden Bereiche sind durchlässig geworden." Die Chefärzte, die unter Küchenhoff arbeiten, leiten sowohl ambulante wie tagesklinische und stationäre Bereiche.
Eine "enorme Veränderung" hatte auch die Auslagerung der Psychiatrie Baselland aus der kantonalen Verwaltung zur Folge. Die Klinik-Einrichtung gehört zwar dem Kanton, aber sie hat "jetzt die Struktur eines Unternehmens mit einer Verstärkung der Eigenverantwortung". Dadurch sei die Leitung in ihren Gestaltungsmöglichkeiten "sehr viel freier und die Beziehung zum Verwaltungsrat enger geworden als früher zur Regierung". So sei "eine dichtere Zusammenarbeit entstanden, die vieles möglich macht".
Die Kehrseite der Medaille aber: Der deutlich höhere ökonomische Druck. Küchenhoff spricht von "vielen Balanceakten ohne Auffangnetz". So müsse "bei allem, was man macht, auch das Wirtschaftliche im Auge behalten werden".
Beziehungsorientierte Behandlung weiter entwickelt
Eine psychiatrische Klinik verfügt über keine kostspieligen Apparate, die auch Einnahmen auslösen. Vielmehr ist "bei uns das Personal der grösste Kostentreiber". Hier tut sich ein kaum lösbares Spannungsfeld auf: Beziehungsorientierte Behandlung ist unmöglich ohne Mitarbeitende, die ein Minimum an Zeit für Gespräche zur Verfügung haben. Küchenhoff: "Das ist ein ständiges Ringen. Als medizinisch-ärztlicher Verantwortlicher würde man sich einen etwas längeren Atem wünschen."
Innerhalb der Psychiatrie kommt es selten zu revolutionären Entwicklungen, auch in Liestal nicht. Unter Küchenhoff ist "die Ausrichtung gleich geblieben" wie unter seinem Vorgänger, "aber sie hat sich weiter entwickelt". Unter dem Reform-Psychiater Theodor Cahn – er war von 1978 bis 2007 Chefarzt – entstand eine "grosse Bereitschaft, die Psychotherapie und das intensive Eingehen auf Patienten in den Vordergrund zu stellen". Diese beziehungsorientierte Behandlung, so Küchenhoff, "habe ich stark weiter entwickelt".
Fokussierte die Psychiatrie noch in den sechziger und siebziger Jahren sehr stark medikamentöse Therapien, legte Küchenhoff "grössten Wert auf die therapeutische Beziehung" in Form von Gesprächen und Begegnungen: "Das ist unsere Stärke und eine Spezialität, die wir hier gefördert haben." Jede der 16 Abteilungen entwickelte ein eigenes Konzept, "wie dieses Konzept umgesetzt werden soll".
Mangel an Psychiatrie-Ärzten
Joachim Küchenhoff kommt auf den Mangel an Psychiatern zu sprechen: "Das ist ein Problem, bei uns und in allen Kliniken in der Schweiz." Im Vergleich mit anderen Kliniken habe Psychiatrie Baselland "bis Herbst letzten Jahres keine besonderen Nachwuchsprobleme" gehabt. Anfang Jahr habe sich das Problem allerdings "akzentuiert". Küchenhoff sieht die Ursache vor allem darin, "dass ich gehe. Wenn der Chef geht und der neue noch nicht da ist, gibt es eine Verunsicherung".
Laut Küchenhoff bildet die Schweiz "immer noch zu wenig Mediziner" aus. Das Altersprofil der Ärzte bewege sich "in Richtung Überalterung".
Auf die Frage, ob die Psychiatrie diesbezüglich nicht ein besonderes Problem habe, überlegt der Demissionierende seine Antwort: "Das Fach hatte schon immer eine Randstellung. Andere Fächer sind lukrativer. Daran liegt es auch." Dabei sei die Psychiatrie "enorm interessant, weil sie biologische, soziale und psychologische Aspekte vereint".
Steigende Patientenzahlen
Dabei ist Psychiatrie ein Wachstumsmarkt: "Wir haben ständig mehr Patienten. Letztes Jahr hatten wir das Unternehmensziel von drei Prozent Steigerung", sagt Küchenhoff, der sofort einschränkt, dass die Aufenthaltszeiten stationärer Patienten in der Klinik "fortlaufend kürzer" werden. Grund ist auch das neue Verrechnungsmodell "Tarpsy": Die Patienten werden nicht mehr so lange behandelt. Es gelte das Motto: "So kurz wie’s nur geht, aber auch so lange wie nötig."
Aus der Steigerung an Patientenzahlen dürfe aber keineswegs geschlossen werden, dass die Schweiz psychisch immer kränker wird. Was hingegen zunehme – und das sei "nur zu befürworten" – sei die Inanspruchnahme der therapeutischen Angebote. Küchenhoff: "Menschen, die psychisch krank sind, fühlen sich heute nicht mehr so stigmatisiert, dass sie sich ihren Angehörigen oder dem Hausarzt nicht anvertrauen wollen."
"Stigmatisierung muss aufhören"
Es sei mittlerweile bekannt, "dass behandlungsbedürftige psychische Krankheiten ausgesprochen verbreitet sind". Insofern sei es "wirklich ein Fortschritt, dass mehr Menschen in Behandlung kommen". Es sei auch "ungeheuer wichtig, dass die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen aufhört". Die Menschen sollen offen über psychische Leiden sprechen.
So wagen es immer mehr Manager, über ihr Burnout zu sprechen – eine Diagnose, die in der Psychiatrie noch nicht offiziell existiert. "Das Burnout ist aus unserer Optik so etwas wie die Vorstufe der Depression als eine der häufigsten Krankheiten überhaupt", sagt Küchenhoff und meint zu den Ursachen: "Die Beschleunigung der Lebenswelten und die steigenden Belastungen in vielen Arbeitsbereichen sowie die wachsende Verantwortung, das eigene Leben zu meistern, spielen eine grosse Rolle." Auch nehme "die Individualität in der Lebensführung und die Schnelligkeit, mit der man reagieren muss", laufend zu.
Neue und erweiterte Angebote
Eingerichtet hat Küchenhoff seit Anfang Jahr eine Sprechstunde für traumatisierte Menschen und Flüchtlinge. Sie haben Ereignisse durchlebt, die ihre eigenen Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigen – sei es durch Autounfall, Flugzeugabsturz, Gewalterfahrung, sexuellen Missbrauch oder Kriegserfahrungen, verbunden mit dem Verlust vieler Angehöriger.
Als Teil der Ambulanz wird diese Dienstleistung von den Krankenkassen bezahlt. Für nicht von den Versicherern bezahlte Leistungen – wie nicht versicherte Patienten, Aufklärung über Essstörungen in Schulen, Konsiliartätigkeiten für Spitäler oder Dolmetscher – steht den staatlichen Psychiatern ein definierter Beitrag für gemeinwirtschaftliche Leistungen zur Verfügung. Dass der Landrat diese Leistungen im Rahmen der Sparbemühungen kürzte, bedauert Küchenhoff.
Wachsende Bedeutung der Prävention
Ausgebaut wurde während Küchenhoffs Leitung die Arbeitspsychiatrie. Ebenso sind vier ehemalige Patienten nach Absolvierung eines Ausbildungsgangs in Bern als sogenannte Genesungsbegleiter angestellt. "Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Genesungsbegleiter können einiges zur Diskussion über die Qualität des Therapieverlaufs beitragen", sagt Küchenhoff.
Auch von einem Ausbau der "Behandlung zu Hause" durch seinen Nachfolger Matthias Jäger, der seit Anfang Monat im Amt ist, geht Küchenhoff aus. Sie ist Ausdruck davon, dass die Betreuung von der Klinik oder dem Ambulatorium zurückverlagert wird und das Ambulatorium generell an Gewicht zunehmen wird.
Mehr Gewicht wird auch die Prävention erlangen, "damit die Krankheit gar nicht eintritt", so Küchenhoff. Denn: Wird eine psychische Krankheit frühzeitig behandelt, sei das "viel weniger gravierend als wenn sie über Jahre unbehandelt bleibt".
Kompetenzzentren mit Mehrwert
Den Blick in die Zukunft richtend glaubt Küchenhoff, dass "die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen regionalen psychiatrischen Zentren noch längst nicht ausgeschöpft sind".
Als einer, der vor seinem Stellenantritt in Liestal an der Universitären Psychiatrischen Klinik in Basel arbeitete und somit beide Kliniken kennt, sieht er eine künftige "fruchtbare Zusammenarbeit" in einer "besseren Aufteilung der Arbeitsschwerpunkte" wie beispielsweise Persönlichkeitsstörung oder Depression.
Ein solcher Arbeitsverbund wäre möglich, "ohne dass die Strukturen verändert werden müssen". Nicht jede Klinik soll alle Krankheitsfelder bearbeiten. Vielmehr sollen Kompetenzzentren gebildet werden, die Mehrwert generieren. Küchenhoff ist überzeugt: "In zwanzig Jahren wird das so sein."
6. Juli 2018
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