Für eine fröhliche Widerstandskultur
Nichts ist zu Ende. Jeder Tag ist ein Anfang. "Auf die Schiffe, ihr Philosophen!", sagte Friedrich Nietzsche.
Wer will, dass es weitergeht, muss einen Wechsel und Übergang initiieren, nicht bei den anderen, sondern bei sich selbst. Das verlangt, sich neu zu orientieren und eine neue Richtung einzuschlagen.
Der Vorsatz, die Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess zu verweigern, nicht zum Mitmacher zu werden, ist das Schwierigste, das zu tun ist. Pausenlos werden die Menschen dem Trommelfeuer der Propaganda, der Werbung, der Medien, der Meinungskonserven, der Kommandos zur Besammlung ausgesetzt und so daran gehindert, innezuhalten und zu sich zu kommen. Unsinn, Dummheit, Platitüden sind fürchterliche Ablenkungs- und Verhinderungsmaschinen. Manchmal möchte man aufspringen, auf den Tisch hauen und rufen: Halt! Genug! Es reicht!
Wut und Zorn sind keine Methode, aber manchmal tun sie wohl. Umgekehrt kommt man auch mit Moral nicht weiter. Sie ist ein Putzmittel, um die Fassade zu reinigen, hinter der der Dreck verborgen wird.
In der Betroffenheits- und Nachdenklichkeitskultur von heute ist eine Umkehrung der Begriffe im Gang. Der Konformismus wird als schlauer Realismus interpretiert und die geistige Trägheit und Zufriedenheit als neue Weitsicht. Keine falsche Bewegung. Weiter im alten Stil. Nichts Neues. Deshalb verflacht auch die Welt jeden Tag ein bisschen mehr. Das Leben in der Ebene ist einfacher als im Gebirge, wo anstrengende und ausdauernde Märsche erforderlich sind, aber der Wanderer wenigstens seinen eigenen Weg gehen und auf diese Weise dem Strassenlärm entgehen kann.
Ach ja, das wollte ich sagen. Nur der Gipfel lohnt sich. Statt dessen regieren die Gewohnheiten, die Routine, der Gleichschritt. Lieber die Anpassung, das Einverständnis, die Zustimmung, so werden Aufregungen und Ärger vermieden. Und so plätschert das Leben dahin und ist vorbei, bevor es richtig angefangen hat.
Was ist besser? Ein Sturzbach über Felsen und Klippen oder eine Badewanne, die mit einem Gurgeln ausläuft? Nur das, was der Mensch selbst leistet und aus sich macht, ist essenziell und hebt das Leben aus der allgemeinen Mittelmässigkeit heraus.
"Nein, wir sind noch nicht am Ziel.
Ja, es gibt noch viel zu tun."
Im Idealfall bestimmt der Mensch aus eigenem Entschluss sein Leben. Nur geht das nicht, ohne einen angemessenen Preis dafür zu bezahlen. Aber die Einbussen und Verzichtleistungen können sich als Befreiung herausstellen.
Wenn es gelingt, den Widerspruch, den Widerstand, die Ablehnung, die Negation, die Destruktion zu neuen Kriterien der geistigen Orientierung zu machen, wird sich etwas ändern. Negation heisst, das Falsche und Schlechte zurückzuweisen, Destruktion schaufelt Platz frei für das Neue. Das "Sagt nein!" des deutschen Schriftstellers Wolfgang Borchert, der mit dem Schrecken der Nazi-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieg in den Knochen 1948 in Basel starb – das "Sagt nein!", das er in die Welt hinausschrie, war eine Aufforderung zum unabhängigen Denken.
Viel zu selten stellen wir unbequeme Fragen und viel zu oft geben wir uns mit uniformierten Antworten und Denkmustern der Meinungsindustrie zufrieden. Sich wehren aber – das ist das Wichtigste. Sonst werden wir mit Scheisse bombardiert. Es ist erstaunlich, wie die Menschen heute bereit sind, sich nach Vorbildern aus der Musterkollektion des Zeitgeists zu stylen. Um in der Öffentlichkeit stehen zu können, drängen sie in die Casting-Shows und bieten sich als Ware zum Verkauf an. Das ist ein neues Gesellschaftsspiel. Die antike Maxime "Lebe im Verborgenen" hat etwas Antiquiertes bekommen.
Wieviele Zumutungen wollen wir noch ertragen? Es sollte nicht schwer sein, zwischen einem gelungenen Ergebnis und dem Schlamassel zu unterscheiden. Was heisst richtig leben? Eine Antwort auf diese Frage ist kein Rezept, sondern eine Lebensaufgabe.
Nein, wir sind noch nicht am Ziel angekommen. Ja, es gibt noch viel zu tun. Aber der Bruch ist erfolgt, der Umschwung vollzogen. "Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine." Auch dieser inspirierende Aphorismus ist von Nietzsche und steht in der "Fröhlichen Wissenschaft".
Genau das ist es, was heute dringend gebraucht wird, eine fröhliche Wissenschaft, ein fröhliches Denken, ein fröhlicher Aufstand, damit es gelingt, zuletzt doch noch ein positives Verhältnis durchzusetzen.
25. März 2013
"Anregender Text"
Anregend, Aurel Schmidts Text zu Beginn einer Woche lesen zu können, in der uns saisonbedingt Bachs Passionen, des neuen Papstes Fusswaschungsaktivität und urbi et orbi sowie die Rettung Zyperns - oder wenigstens der zypriotischen Banken, wenn auch unter Inkaufnahme von Verlusten für Normalsterbliche, nebst allerhand News über Syriens Bürgerkriegsopfer und so weiter präsentiert werden. Und natürlich die Bewegungen an den Börsen der Welt auf allen Einheitsbildschirmen.
Dieser "Welt" etwas entgegensetzen? Vielleicht, im Sinne von Schmidt's Äusserungen: "Träumen. - Man träumt gar nicht oder interessant. Man muß lernen, ebenso zu wachen - gar nicht oder interessant." (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus Nr. 232)
Alois-Karl Hürlimann, Berlin